Mach mir schöne Augen, Kleines: „Blind & hässlich“, der neue Film des Publikumslieblings Tom Lass, hätte ein ganz schreckliches Rührstück werden können. Wurde aber zauberhaft. Das hat Gründe.
Von Cosima Lutz
„Blind & hässlich“ klingt ja erst einmal wie der ausgestreckte Fuckfinger überhaupt. Gegen den allgegenwärtigen Gebots-Klumpen aus 1. alles sehen müssen, 2. Schönes sehen müssen, 3. ständig gesehen werden müssen und 4. dabei auch noch schön aussehen müssen.
Dabei ist der Titel einfach bloß eine Feststellung über ein Paar und keine Gesellschaftskritik. Denn in Tom Lass’ Film treffen sich nun mal zwei, bei denen es sich ohne tiefschürfendes Nachdenken von selbst erklärt, dass sie zusammengehören könnten: Der vereinsamte Ferdi (Tom Lass) hält sich für hässlich und trifft dann auf die blinde Jona (Naomi Achternbusch), die ihn trotz seines Äußeren mag. Das Wesentliche ist ja für die Augen sowieso unsichtbar und so weiter.
Was hätte aus dieser Konstellation für ein gefälliges Arthouse-Rührstück werden können, inklusive Plakat mit Paar auf Fahrrad, er mit fliehendem Kinn, sie mit wehendem Haar. Bloß wie strickt man daraus einen wilden, lustigen Knaller, der zumindest in seinen ersten beiden Dritteln nicht aufhört, zu überraschen?
Dem Regisseur Tom Lass liegt an psychologischen Tiefenbohrungen nichts, und er hat auf völlig unangestrengte Art kein Problem damit, seine Einfälle und Handlungskonstruktionen ins Surreale kippen zu lassen. Komischerweise wirken sie dabei kein bisschen falsch oder übertrieben, sondern eher zart dem Leben (und dem improvisierenden Cast) abgelauscht.
So eine Konstruktion ist dann zum Beispiel die Tatsache, dass Jona gar nicht blind ist. Sie tut nur so. Jemandem schöne Augen machen, pah. Jona gibt sich Mühe, besonders schief und nichts sehend auszusehen.Warum macht ein Mensch das? Lass findet aus den ungefähr null Gründen, die einem selbst einfallen würden, den vielleicht einzig denkbaren, und auch der hat wiederum keinen tieferen, nur einen praktischen Sinn: Jona ist von zuhause abgehauen und braucht halt ein Zimmer in Berlin. Sie kommt in der Blinden-WG ihrer wirklich blinden Cousine Cécile (zauberhaft: Clara Schramm) unter. Und dazu muss sie glaubhaft die Sehbehinderte spielen.
Parallel zu dieser anfangs noch hinterhältig mit Sozialdrama-Elementen spielenden Geschichte sehen wir, als wäre es ein völlig anderer Film, nämlich ein Horrorfilm, einen ungut verstrubbelten jungen Mann mit irr verschattetem Blick ungelenk durch den Wald staksen. Okay, das muss dann wohl leider der Protagonist sein, zauselt es einem da durch den Kopf. Er isst einen Regenwurm, umarmt nietzscheanisch ein Pferd und fragt quäkend eine Frau, die gerade Holzscheite schlichtet: „Willst du mit mir gehen“, sie rennt in Panik davon. Festnahme in einem Stall, betreutes Wohnen in Berlin, Gruppentherapie. Selbstmordversuch.
Das alles ist so virtuos unordentlich und dabei flüssig erzählt, voller Jumpcuts und Auslassungen dessen, was sonst in sich suhlender Weise auserzählt wird, dass sich ein Kritikerkollege schon zu dem Ruf „vergesst Godard!“ hat hinreißen lassen. Überhaupt ist der jüngere Bruder von Jakob Lass („Love Steaks“) ein Kritiker- und Publimumsliebling: Schon sein improvisierter Erstling „Papa Gold“ (2009) war unter anderem für den Max-Ophüls-Preis nominiert, „Blind & hässlich“ erhielt beim Filmfest München den Preis des internationalen Kritikerverbands FIPRESCI.
Zu den Surrealismen, die Tom Lass unterwegs aufklaubt wie schöne, grotesk geformte Steinchen, gehören: ein auf seine instrumentale Wörtlichkeit heruntergebrochener Blowjob (jugendfrei), Polizisten, die Jona wie mittelmäßige Regisseure vorspielen, wie sie Ferdi die Wahrheit über ihr Sehvermögen mitteilen soll (Regie-Kollege Axel Ranisch und Karin Hanczewski), ein Blindenhund, der zur Reparatur muss wie ein kaputtes Gerät, und ein Geldautomat, der sich mit Verwandtschaftsverhältnissen auskennt („Das Konto wurde von Ihrer Mutter gesperrt“, sagt er).
Dafür lässt Lass andere Leckerchen zur Aufhübschung der Schauwerte links liegen: Mindestens drei Mal kommt es zu Situationen, in denen andere Regisseure nach guter alter dramaturgischer Gewohnheit den guten alten sexuellen Übergriff abgefeiert hätten. Tom Lass hat einfach jedes Mal eine viel bessere Idee. Was nicht heißt, dass es nicht zwischendurch auch brutal wird. Schließlich gibt es da noch jemanden, der sich in Jona verliebt, den cholerischen Clubbesitzer Björn (Dimitri Stapfer).
Ein Berlinfilm ist „Blind & hässlich“ übrigens auch, und auch da gelingt Tom Lass ein lässiges, aber nicht zu cooles Porträt des Weglassens, trotz der Szenen im Club, der abgeranzten Hauseingänge und der Sonnenuntergänge am Tempelhofer Feld: Berlin ist eben da, aber in einer schütteren, schönen Egalheit, die diese Stadt oft für diejenigen ausmacht, die in ihr leben. Dazu passt auch die markante, kontrastreiche Musikauswahl, die zwar bloß illustriert, dabei aber so rau, hart oder süß einem um die Ohren fliegt wie die Geräusch- und Geruchs-Zumutungen in einer vollbesetzten Tram.
Wie furchtlos leise aber vor allem Naomi Achternbusch ihre Jona zeichnet: Als hätte Amy Winehouse einem präraffaelitischen Maler Modell gestanden, allerdings ohne jedes Selbstzerstörungs-Pathos, kann sie in einem einzigen Lächeln den ganzen Bogen zwischen Traurigkeit und gütiger Belustigung aufspannen. So kindlich-hoch ihre Stimme, so bescheuert ihr Schielen, so superheldinnenhaft und weise sind dann aber ihre Handlungen.
Wenn auch mit Verzögerung, denn: Nachdem der Film mindestens zweimal glückvoll geendet haben könnte, einmal an einem Badesee, einmal beim Spaghettiessen mit dem Hauswart (auch toll: Peter Marty), bleibt ja immer die aufs Katastrophische zulaufende, zunehmend nach Auflösung drängende Frage: Wie sagt sie Ferdi, dass sie ihn schon die ganze Zeit sieht?
In seinem letzten Drittel findet dann der Film selbst nicht so recht aus dieser Nummer und wird doch noch ein wenig zum klammheimlichen Arthouse-Rührstück. Die Virtuosität des Schnitts (Tom Lass mit Daniel Hacker und Maja Tennstedt) tritt zurück und macht einer eher konventionellen, leider auch etwas lahmen Linearität Platz. Aber weil man als Zuschauer bis dahin in jede, auch in die kleinste Nebenfigur, hineinverliebt worden ist, sieht man gerne bis zum Ende zu – egal ob mit offenen oder geschlossenen Augen.
(erschienen am 19./20.09.2017 in der „Welt“)
https://www.welt.de/kultur/kino/article168802902/Augen-zu-und-durch-in-die-Liebe.html