The King of Pigs

Nino Klingler

Vom ewigen Stürzen:
Einen atmosphärisch so düsteren und emotional so erbarmungslosen
Zeichentrickfilm wie The King of Pigs sieht man selten. Dabei lässt
sich nicht zuletzt etwas über die psychologischen Effekte der
Comicphysik lernen.

 

Cartoonkörper sind
zum Leiden gezeichnet. Seit Anbeginn. Als pure Fantasiegeschöpfe
sind sie prinzipiell leblos, und deshalb unsterblich. Man spricht ja
auch nicht zufällig von „Comic-Gewalt“, um den Punkt zu
bezeichnen, an dem Overkill zur Groteske wird. Will E. Coyote wird
zerstückelt, gefaltet, plattgewalzt; immer wieder, in jeder
Roadrunner-Episode. Und immer wieder gibt es da den berühmtesten
aller Cartoon-Momente: Will E. Coyote schwebt. Lächerlich tritt er
Luft, vergeblich weigert er sich, hinab zu blicken. Überall
Abgründe, überall Stürze. Doch kein Aufprall wird tödlich sein.

 

Cartoonfiguren
spüren jeden Schmerz

 

Auch in The King of
Pigs müssen gezeichnete Körper leiden. Und auch hier kreist die
Erzählung um den Moment vor einem Sturz, den Moment des Schwebens.
Aber mit seinen betont hässlich kolorierten Albtraumwelten, seiner
Palette zwischen fauligem Ocker und stählernem Anthrazit, der
ruckelnden Limited Animation und den desperaten Psychologien seiner
Figuren will das Langfilmdebüt des Koreaners Yeon Sang-ho alles
andere als amüsieren. 

Die unmenschlich –
weil unendlich – entbehrungsfähigen Cartoonkörper verstärken die
visuellen Schmerzen eher. Wie in einer rabenschwarzen Wendung der
Rezeptur von Takahatas Die letzten Glühwürmchen (1988) steigt die
Zuschauerempathie gerade dadurch, dass wir gezeichneten Figuren bei
ihren fortgesetzten Qualen zuschauen. Und der Sturz, das traumatische
Erzählzentrum, birgt in sich nicht die zugleich grässliche wie
komödiantische Gewissheit der Cartoon-Unsterblichkeit. Nein, hier
schlägt der Fallende auf harten Grund. Immer wieder.

 

Rundgang durch das
koreanische Gegenwartskino

 

Zahlreiche Tropen
des zeitgenössischen koreanischen Kinos lassen sich in The King of
Pigs wiedererkennen. Die Ausgangssituation der Story könnte, wäre
alles andere nicht so hoffnungslos, fast von Hong Sang-soo stammen:
15 Jahre nach Schulabschluss bekommt der verarmte Ghostwriter
Jong-suk unerwartet einen Anruf seines ehemals besten Freundes
Kyung-min. Die entfremdeten, jeweils in existenziellen Krisen
steckenden Verlierer treffen sich in einem Grilllokal, trinken
Reiswein und erinnern sich an die schrecklichen Schuljahre, als sie
von einer professionell organisierten Mobbing-Gang gehänselt wurden.
Währenddessen vermodert in Kyung-mins Appartment die Leiche seiner
Ehefrau.

Die unerbittlichen
Hierarchien unter den Schuljungs, das von ihnen entfachte Karussell
der Erniedrigungen, die ständige Gewalt gegenüber Schwächeren hat
wiederum viel vom Ressentiment-Kino Kim Ki-duks. Wie bei Kim gibt es
da jede Menge homophobes Machogetue: Man greift den „schwulen“
Schwächlingen in den Schritt, leert ihnen Urin über den Kopf, zieht
ihnen die Mädchenhosen aus. Der durch den wortkargen jugendlichen
Drifter Chul verkörperte Wunsch nach Vergeltung könnte mit seiner
Zahn-um-Gebiss-Mentalität dann direkt der Rache-Trilogie Park
Chan-wooks entnommen sein. Er wird die beiden verschüchterten
Mobbingopfer die Philosophie des Messers lehren. Sein negativer
Humanismus ist so dunkel wie unkindlich: „Nur das Böse macht uns
zu Menschen“, sagt er. Wenn das alles eine Allegorie auf die
autoritätshörige koreanische Gesellschaft sein soll, dann steht es
um die in diesem sozialen Mahlwerk zerriebenen Menschen nicht gut.

 

Was ständig in
Bewegung ist, ist eigentlich vollkommen ruhig

 

Visuell ist The King
of Pigs ein fieses Statement: eine Welt der Fratzen, des ständigen
Schwitzens, der Ausweglosigkeit. Häufig wirkt alles wie erstarrt,
nur die Umrisslinien der geballten Fäuste zittern vor aufgestauter
Wut. Flach sind die Räume hier, und wenn mal ein digitaler 3D-Effekt
Tiefenbewegungen andeutet, dann um Schwindel zu erzeugen. Die kantig
konturierten Gesichter der Schuljungs sind brutale Skizzen. Die
ständigen Prügel haben in sie schon die Züge der zukünftig
verhärmten Erwachsenen geboxt.

Die in einem
diabolisch ausgeklügelten Demütigungsuniversum unablässig abwärts
ziehenden Erzählspiralen machen The King of Pigs im guten wie im
schlechten Sinne zu einer Tortur. Yeons Verweigerung Auswege
anzudeuten (mit einer selbstverständlich scheiternden Ausnahme)
vergewaltigt unsere Sehnsucht nach kreativer Spekulation: „Er
könnte doch, er hätte doch anders…“ Den Konjunktiv gibt’s
hier nicht, jedes Geschehnis ist ein harter Fakt. Selbst die
Albträume. Da waren die ähnlich konsequent auserzählten
Mobbinggeschichten Harmony Lessons (2012) und Confessions (2011)
zumindest verspielter.

Aber im Laufe der
Zeit gewinnt The King of Pigs gerade durch seine unerbittliche
Haltung etwas nahezu Erhabenes. Es ist gewiss ein dunkler Sog, der da
anschwillt und der uns nach Wissen um das originäre Ereignis, die
traumatische Episode gieren lässt. Dass dort nichts Hoffnungsvolles
zu erwarten ist, macht schon die Eingangssequenz klar. Aber man will
eine Rechtfertigung für die Hartnäckigkeit, mit der der Film seine
Figuren verdammt. So kommt das von psychologischen wie sozialen
Schwerkräften immerzu hinab gezogene Cartoonuniversum von The King
of Pigs am Ende doch ins Schweben. Körper stürzen, mehrfach, immer
wieder. Sie sind immer gestürzt, weil das ihr Schicksal ist. Am
Anfang und am Ende wird dann einsam und bitterlich geheult, weil sich
die Gewaltspiralen zum Kreis der Erkenntnis geschlossen haben. Und
das ist in etwa so peinlich und ehrlich wie die brachial-naiven Verse
eines Till Lindemann: „In stillen Nächten weint ein Mann / weil er
sich erinnern kann“. Er weint natürlich nicht, weil es einmal
besser war. Sondern immer nur gleich schlimm.

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 14.06.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.