Eine Kordel trennt die beiden Sphären

SPIELFILM
Eine Wienerin, Mitte fünfzig, sehnt sich nach Zuneigung, Zärtlichkeit
und Sex. Bei den Beach Boys an der kenianischen Küste wird sie fündig.
Ulrich Seidls neuer Film "Paradies: Liebe" handelt von einer Schieflage
in Sachen Wohlstand, Macht und Mobilität.

 Cristina Nord

Als
Ulrich Seidls Film "Paradies: Liebe" beim Festival von Cannes lief,
hatte einer der Darsteller Schwierigkeiten, rechtzeitig anzureisen. Bei
der Pressekonferenz erklärte der Wiener Regisseur, der junge Kenianer
Peter Kazungu habe Probleme mit Pass und Visum bekommen. Das war
insofern bezeichnend, als eine der Asymmetrien, um die der Film
unentwegt kreist, jäh zutage trat. Ein Österreicher oder ein Franzose
hätte ohne Probleme ein Touristenvisum für Kenia erhalten, einem
Kenianer wird ein solches Visum für den Schengen-Raum rasch verwehrt.
Gleichberechtigung ist ein ferner Traum, wo es um das Verhältnis von
Afrika und Europa geht.

So schaffte es Kazungu
zwar gerade eben, im Palais du Festival auf dem Podium Platz zu nehmen,
den Film aber hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehen können.
Deswegen hatte es keinen Sinn ihn zu fragen, wie er sich darin
dargestellt sieht. Das war schade, denn von ihm, der sich im echten
Leben wie im Film als Beach Boy verdingt, also als einer, der die
romantischen und sexuellen Bedürfnisse europäischer Frauen erfüllt und
sich dafür aushalten lässt, hätte man gern erfahren, ob er mit dem
Blick, den der Film auf ihn wirft, etwas anfangen kann.

Zugleich
hat es etwas von einem Reflex, wenn sich diese Frage so sehr aufdrängt.
Dass der Zuschauer sich beim Laiendarsteller vergewissern möchte, ob
der mit dem fertigen Film einverstanden ist, ist eine unwillkürliche
Reaktion auf die Unsicherheit, die Seidls Arbeiten regelmäßig auslösen.
In ähnlichem Maße wie "Hundstage" oder "Import/ Export" wirft "Paradies:
Liebe" die Frage auf, wie der Regisseur mit den Akteuren, die er
engagiert, umgeht. Stellt er sie bloß? Oder verleiht er ihnen, im
Gegenteil, eine besondere Form der Würde, die ihnen die schwierigen
Verhältnisse, in denen sie leben, vorenthalten? Hätte Peter Kazungu in
Cannes gesagt, er möge Seidls Film, er hätte das Publikum, zumindest auf
den ersten Blick, entlastet. Es wäre von der schwierigen Aufgabe
befreit, selbst eine Antwort zu finden.

"Paradies:
Liebe" ist der erste Teil einer ehrgeizigen Trilogie, der zweite,
"Paradies: Glaube", erlebte seine Uraufführung im September bei der
Mostra von Venedig, die Premiere von "Paradies: Hoffnung" wird während
der Berlinale stattfinden. Es geht im ersten Teil längst nicht nur um
den Beach Boy namens Mungu; im Mittelpunkt steht vielmehr die Wienerin
Teresa (Margarethe Tiesel), eine Frau Mitte fünfzig. Sie hat eine
pubertierende Tochter, die sie ohne Partner großzieht, und sie arbeitet
als Pflegerin für Behinderte. In der spektakulären ersten Sequenz des
Films steht sie vor der exotischen Dekoration eines Autoskooters, auf
der Piste vergnügen sich ihre Schützlinge, Menschen mit Downsyndrom; die
Kamera schaut von der Haube der Autoskooter in selige Gesichter.

Wenige
Szenen später reist Teresa nach Kenia, an die Stelle der exotischen
Kulisse im Autoskooter tritt also ein echter Palmenstrand, säuberlich
aufgeteilt in einen Bereich, der zum Hotel gehört, und einen, den die
Beach Boys besiedeln. Eine Kordel trennt die beiden Sphären; die
Kameramänner Edward Lachmann und Wolfgang Thaler bringen diese
Aufteilung mehrmals in sorgfältig komponierten Totalen zum Vorschein.

Teresa
fühlt sich dick und hässlich; sie dürstet nach Zuwendung. Als sie Mungu
begegnet, ist sie so naiv zu glauben, eine romantische Beziehung mit
ihm zu führen. Die Enttäuschung ist programmiert, ändert aber nichts
daran, dass die Figur ihrer Verwundbarkeit zum Trotz ein Paradebeispiel
europäischer Überheblichkeit ist. Wenn die kenianischen Männer nicht
tun, was sie möchte, wird sie herrisch. "Paradies: Liebe" lotet diese
tiefe Ambivalenz aus Bedürftigkeit und Arroganz aus, er wirft seiner
Hauptfigur nicht vor, was sie tut, er entwickelt sogar ein Gespür für
die Komik, die in dieser verqueren, neokolonialen Austauschbeziehung
eben auch steckt. Aber zugleich erspart der Film seinem Publikum nichts.

Gegen Ende etwa findet sich eine lange,
deprimierende Sequenz, in der Teresa und drei Freundinnen sich an einem
jungen Mann schadlos halten, auch er wird von einem Laiendarsteller, der
im echten Leben als Beach Boy arbeitet, verkörpert. Es ist Teresas
Geburtstag, der Mann ein Geschenk der Freundinnen, er tanzt für sie in
der Hotelsuite, doch das, wofür sie ihn bezahlt haben, die Erektion,
will sich nicht recht einstellen.

An diesen
Bildern entzünden sich all die Fragen, die Seidls Oeuvre seit Jahr und
Tag umstellen. Es sind Fragen, die sich nicht erübrigen, nur weil der
Vorwurf, der Regisseur beute seine Protagonisten aus, schon oft und auf
billige Weise erhoben wurde. Sie stellen sich bei jedem Film neu: Wenn
Seidl einen Beach Boy anheuert und ihn mit halber Erektion filmt,
verhält er sich dann nicht ähnlich wie die Freierinnen? Nutzt er nicht
die Schieflage in Sachen Wohlstand, Macht und Mobilität aus, so wie es
die Europäerinnen in Kenia tun? Bekräftigt er damit die Erbärmlichkeit
von Verhältnissen, in denen Frauen über fünfzig keinen anderen Weg als
die Fernreise finden, um ihre sexuellen Bedürfnisse zu stillen, und
Männer in Kenia, Ghana oder in der Karibik darauf angewiesen sind, Sex
und Gefühle zu veräußern?

Es gibt auf diese
Fragen keine abschließende Antwort. Wer sie bejaht, setzt sich selbst
auf ein hohes moralisches Ross, wer sie als abgedroschen abtut, verkennt
ihre Dringlichkeit. Vermutlich liegt in der quälenden
Unabgeschlossenheit genau die Qualität des Films.

Doch
auch diese Qualität schafft einen leisen Zweifel nicht aus der Welt.
Der liegt darin begründet, dass Seidl und die Ko-Autorin Veronika Franz
das Elend, das in "Paradies: Liebe" aufscheint, ja nicht vorgefunden,
sondern erfunden haben. So virtuos der Film im Einzelnen inszeniert ist,
etwa in den Einstellungen, in denen Teresa auf der Bettstatt unterm
Moskitonetz döst, als sei sie Goyas schöne Nackte, so bleibt doch ein
Unbehagen, denn die Figuren, auf die mit Zärtlichkeit zu blicken der
Wunsch des Film sein mag, erscheinen ein klein wenig zu klar konturiert
in ihrer Not. Die Frage, inwieweit die eurozentrische Überheblichkeit
der weiblichen Hauptfigur und das Pendant, die subalterne
Verschlagenheit der Beach Boys, Resultat einer gewaltigen Konstruktions-
und Projektionsanstrengung sind, treibt einen noch lange nach dem
Abspann um.

 

erschienen in: taz, 03.01.2013