Manifeste gegen Passivität und Weltschmerz

Rüdiger Suchslands Rede zur Verleihung des ersten Siegfried Kracauer Preises

Rüdiger Suchsland

Meine Damen, meine Herren,
liebe Gabriele Röthemeyer,
liebe Freunde von der MFG,
lieber Vorstand und liebe Mitglieder des Verbands der deutschen Filmkritik,

bevor ich Ihnen sehr kurz ein paar Dinge zu Siegfried Kracauer erzähle, möchte ich mich zunächst und vor allem bedanken.

Bedanken bei Ihnen, Frau Röthemeyer, dafür dass Sie ganz persönlich und die MFG diesen Preis möglich machen. Nicht nur möglich, sondern dass Sie ihn dotieren, anständig dotieren. 15.000 Euro, das ist ja kein Pappenstiel, das ist höher dotiert, als viele Filmpreise.

Die Filmkritik kommt immer nach dem Film. Und so ist man fast versucht, Bibelsprüche zu zitieren, und irgendwas zu sagen in der Art: Die Letzten werden die ersten sein – also ist dieser Preis auch ein Symbol als eine Ihrer – leider – letzten Amtshandlungen. Ein Symbol dafür, dass auch die Filmkritik zwar spät kommt, aber bedeutend ist und eben nicht fehlen soll im Gesamtkonzert dessen, was wir Kino nennen.

Um so mehr hoffe ich, und bin auch überzeugt, dass sich das auf Dauer stellen lässt, dass dieser erste Siegfried Kracauer Preis heute zum Beginn einer länger angelegten, gegenseitig fruchtbaren Zusammenarbeit wird.

Ich bin nun sehr froh darüber, dass dieser Preis ausgerechnet den Namen Siegfried Kracauers trägt. Denn es hätte – ganz ehrlich – keinen besseren Namensgeber für diesen Preis gegeben, als ihn.

Warum?

Tatsächlich auch deshalb, weil es – kaum zu glauben -, zumindest eine Verbindung gibt zwischen Siegfried Kracauer und Baden-Württemberg.

Sie wissen es alle: Kracauer wurde 1889 in Frankfurt geboren, wuchs dort auch auf, studierte zunächst in Darmstadt, dann in Berlin und München – alles keine badischen und württembergischen Städte. Dann war er sogar mal – das ersparte ihm den Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg – angestellt in Osnabrück, dann wieder in Frankfurt – bei der „Frankfurter Zeitung“, zudem gehörig zur Frankfurter Schule, zu deren – zumindest ferneren – Umkreis er mit guten Gründen gerechnet wird.

Dann Berlin – wo er für diese Frankfurter Zeitung zum wichtigsten Filmkritiker der Weimarer Republik und überhaupt zu einem ihrer wichtigsten Feuilletonisten wurde.

Dann, 1933, wurde er vertrieben nach Paris, lebte ab 1941 für die letzten 25 Jahre seines Lebens in New York, wo er auch die Bücher schrieb, die heute seine berühmtesten sind.

Nein – das alles verbindet ihn kaum mit Baden-Württemberg.

Aber der Nachlass. Der Nachlass nämlich ist da, wo er unbedingt hingehört: In Marbach beim Deutschen Literaturarchiv. Und wer heute etwas über Siegfried Kracauer wissen will, über ihn arbeitet, Unveröffentlichtes von ihm lesen will, Autographen sichten, der kommt um Marbach, also um Baden-Württemberg nicht herum.

Es hätte aber auch aus anderen Gründen keinen besseren Namensgeber für diesen Preis gegeben. Es ist überfällig, an ihn zu erinnern, denn wir können viel von ihm erfahren. Eigentlich ist es unglaublich, ein kleiner Skandal, dass man überhaupt in Deutschland an Siegfried Kracauer erinnern muss.

Meine persönliche Erfahrung in den letzten zwei Jahren, in denen ich mich intensiv mit ihm beschäftige, ist die, dass Kracauer so ziemlich in jedem Land der Welt, egal wo man fragt, bekannter ist als hier.

Das hat seine Gründe, die ich allenfalls andeuten kann, wenn ich daran erinnere, wie nach dem Krieg mit Emigranten umgegangen wurde, vor allem mit denen, die auch nach dem Krieg sperrig blieben, aber das ändert sich ja jetzt hoffentlich.

Ich kann Ihnen allen nur empfehlen, anstatt Reden über Kracauer zuzuhören, ihn zu lesen. Und zwar nicht um mir, sondern um sich selbst einen Gefallen zu tun.

Was hat der Mann alles geschrieben! Nicht nur seine bekannten dicken filmhistorischen und filmtheoretischen Bücher: „Von Caligari zu Hitler“, „Theorie des Films“. Sondern auch Filmkritiken, fast 1000 in knapp zwölf Jahren! Da muss heute niemand über das Internet und neue Vielschreiberei klagen, sich künstlich aufregen – das war immer so für uns Kritiker.

Daneben schrieb er auch noch unzählige weitere Texte für die Zeitung, Feuilletons über alles Mögliche, über Regenschirme, Literatur, Tiller-Girls, und – ein wunderbarer Band – über „Straßen in Berlin und anderswo“.

Kracauer war ein Pop-Autor, als es diesen Begriff noch gar nicht gab.

Kracauer war aber auch der Autor von Romanen. Er schrieb eine Biographie – nicht zu einem Filmregisseur, sondern über den Operettenkomponisten Jacques Offenbach.

Und eine soziologische Studie über „Die Angestellten“.

Was dies alles verbindet: Ein kompromissloses, seismographisches Interesse an der Zeitgenossenschaft und an der Signatur seiner Gegenwart. „Es wäre gut, etwas von seiner Zeit zu wissen“, war sein Motto.

Diese Vielfalt, der Pluralismus – nicht verstanden als Beliebigkeit, sondern als Neugier und Offenheit, die Standortlosigkeit als Kardinaltugend eines Kritikers und Intellektuellen (und das dürfen auch Journalisten sein) ist die wichtigste Lektion Kracauers.

Kracauer schrieb in einer Zeit, die für das deutsche Kino die allerbeste war. Nicht nur, weil deutsche Filme damals Hollywood Paroli boten, sondern weil die Filme selbst ein später nie wieder erreichtes Niveau hatten und von einer unglaublichen Vielfalt der Mittel, Stile und Geschichten geprägt waren, vom phantastischen Film übers Melodram, bis zu Neorealismus avant la lettre. Es war eine wagemutige, kluge Epoche für das deutsche Kino – und Kracauer ist der Beweis, dass Qualität der Filme und der Filmkritik einander bedingen.

Schade, dass wir in Deutschland unsere eigene Vergangenheit dermaßen vergessen haben und ignorieren, dass auch die Förderung zu ignorieren scheint, dass Science-Fiction und Fantasy und vieles mehr eigentlich aus Deutschland stammen, und hier ihren Anfang nahmen, keineswegs in anderen Ländern.

Was wir, nicht nur als Filmkritiker, sondern als Menschen, die das Kino lieben, von Kracauer lernen könnten, ist Folgendes:

Kracauer hat immer daran erinnert, dass Filmkritik und auch das Kino insgesamt eine ökonomische Basis braucht.

Und heute, in diesen Tagen und auch schon vor der Finanzkrise wird die ökonomische Basis der Filmkritik wie die des Qualitätsjournalismus überhaupt, leider zunehmend prekär.

Und ich verstehe den Siegfried Kracauer Preis auch als Manifest gegen diese Tendenzen.

„Der Film“ so hat Kracauer formuliert, „ist eine Ware wie andere Waren auch.“ Das ist das Gegenteil von irgendeiner irgendwie elitären Haltung – man wirft das manchem gerne vor -, die sich in einem Elfenbeinturm verschanzt. Allerdings, das noch dazu, geht es auch nicht darum, nun gerade noch den letzten Elfenbeinturm einzureißen, die Festungen des Mainstream aber links liegen zu lassen.

Aber man muss immer die Ware Kino sehen und die Bedingungen unter denen sie produziert und vertrieben wird. Filmkritik ist eben nicht nur am Ästhetischen interessiert, und sie ist alles andere als schöngeistig. Diesen Blick auf die Ökonomie, den können wir von Kracauer lernen.

Aber etwas zweites hat Kracauer gleich dahinter geschrieben: „Der Film erschöpft sich nicht darin, Ware zu sein.“

Was wir also auch von Kracauer lernen könnten, dass ist der Blick auf Politik und Gesellschaft. Damit gemeint ist gerade kein Verständnis von Filmkritik als Ideologiekritik in dem Sinn, dass die Kritik ideologisch zu sein hätte – nein: Aber sie hat die Ideologien, die sich im Film verstecken, aufzuspüren und zu benennen. Das heißt Ideologiekritik.

Politische, gesellschaftskritische Filmkritik ist vielmehr die Einsicht – aus Erfahrung! – dass Filme uns eben viel erzählen, sehr viel mehr, als wir ahnen, darüber, was in unserer Gegenwart, in den Köpfen der Menschen, vielleicht auch ihrem Unbewussten, vor sich geht.

Filme tragen einen Überschuss in sich, sie wissen mehr als ihre Macher, ihre Zeitgenossen, und vielleicht auch mehr als andere Künste – gerade weil sie mehr als andere Künste auch Ware sind und sich an Massen richten.

Was, meine Damen, meine Herren ist also ein Kritiker im Sinne Kracauers?

Ein Kritiker ist ein Vertreter und Vermittler; er ist ein Verteidiger, ein Anwalt;
ein Verteidiger des Komplizierten;
ein Verteidiger des Provisorischen;
ein Verteidiger des Konsequenten gegen das Kompromisslerische;
ein Verteidiger des Ästhetischen gegen die Moral;
ein Verteidiger des Spontanen und Plötzlichen gegen das Abgeklärte und Fertige.

Was Kracauer – und mit ihm auch ein Preis, der nach ihm benannt ist – tut, das ist zusammengefasst Folgendes:

– Er tritt ein für Vielfalt – gegen Homogenisierungstendenzen

– Er tritt ein für eine nicht dogmatische, aber normative Ästhetik – im Meer des Beliebigen.

– Er tritt ein fürs Kino – wo man nur von Film redet und jedes Abspielmedium meint. „Barry Lyndon“ oder „Außer Atem“ auf dem Handy gucken – ein Graus.

– Kracauer erinnert auch – mitten im Zeitalter der digitalen Manipulierbarkeit der Bilder – daran, dass Kino einmal das herausragende Medium des Authentischen, ein Medium der – verzeihen Sie den Ausdruck – Wahrheit war.

Kracauers Texte sind engagierte und wie schon gesagt neugierige Untersuchungen des Lebens. Seine filmische Poetik nimmt die Poesie nie wichtiger als die Realität.

Kracauer erinnert uns daran, dass Filmkritik nicht mit Wohlgefallen verwechselt werden muss, nicht immer nur zu Begeisterung hinreißen muss. Es gibt eben auch eine Schönheit der Filmkritik wie des Kinos, die Widerstände oder gar Widerspruch hervorruft, deren unaufhörlicher Reiz gerade darin besteht, uns immer wieder gereizt zu machen. Filmkritik als schönes Ärgernis – weil es widerständig ist.

Kracauers Texte sind kleine, große, blitzende, mutige Manifeste gegen Passivität und Weltschmerz, gegen jene luxuriöse Schwermut, die uns alle gern in Versuchung führt.

Darum sind seine Texte auch Manifeste für das Kino.

Kracauer ist der richtige Namensgeber für einen Preis, der die Unabhängigkeit der Filmkritik verteidigen will, der Richtige um daran zu erinnern, dass Filmkritik nichts mehr braucht, als eines: Freiheit.

Sehr herzlich gratuliere ich den Preisstiftern und den Preisträgern zum diesjährigen Siegfried-Kracauer-Preis.

Rüdiger Suchsland

(Schriftform vom 23.11.2013)

Foto: VdFk/Kisorsy