Hans-Joachim Schlegel (26.1.1942-30.10.2016)

Als Journalist und Publizist hat sich Hans-Joachim Schlegel ums Kino verdient gemacht, insbesondere um den osteuropäischen Film, dem er auf Festivals, als Mitglied von Jurys und in zahllosen Publikationen jahrzehntelang Würdigung verschaffte. Nun ist Hans-Joachim Schlegel 74-jährig gestorben. Ein Nachruf.

Hans-Joachim Schlegel (26.1.1942-30.10.2016)

Niemand anderes hierzulande hatte so viel Wissen über den osteuropäischen Film in seinem Kopf versammelt wie der Journalist und Publizist Hans-Joachim Schlegel. Und in seinem Herzen. Schon als Student der Slawistik und Philosophie, in Marburg, Bratislava und Prag, liebte er das Kino. Damals, Ende der 1960er-Jahre, entdeckte er auch Sergej Eisenstein für sich, der zu einer Art Übervater wurde. Schlegel übertrug dessen Schriften ins Deutsche. Der Carl Hanser Verlag ermöglichte eine vierbändige Edition, die von der Kritik als Großtat gefeiert wurde. Schlegels hohes wissenschaftliche Ethos, seine Kunst, Film- und Zeitgeschichte zu verschmelzen, streng faktenbezogen und dialektisch geschult, machte international von sich reden.

Bewundernswert polyglott, parlierte er in mehreren slawischen Sprachen: tschechisch, slowakisch, polnisch, russisch, ukrainisch. Festivals versicherten sich seiner Mitarbeit beim Aufspüren filmischer Perlen. Viele Jahre lang holte er sie zu den Kurzfilmtagen nach Oberhausen oder zur „Berlinale“, nach Leipzig, Cottbus und Wiesbaden. Er leitete Symposien, edierte Bücher zum baltischen, rumänischen, slowakischen Film, zum Surrealismus, zu Film und Religion, Psychoanalyse, Architektur. Er übersetzte Tarkowskis Gedanken zu Kunst und Ästhetik, „Die versiegelte Zeit“, und Alexander Sokurows „Japanische Reisen“. Er wirkte in Jurys mit, nicht zuletzt in ökumenischen. Der „FILMDIENST“ und die „FILMKorrespondenz“ konnten fest auf ihn als Autor und Ratgeber zählen.

Seine Ansprüche waren riesig, seine Unzufriedenheit mit dem Gang der Dinge, nicht zuletzt mit sich selbst, wuchs. Er verlangte sich und anderen ab, Kunst und Gesellschaft, Sinn und Form, Vergangenheit und Gegenwart stets im Zusammenhang zu sehen. Bis zuletzt erhoffte er vom Kino, gerade dem osteuropäischen, gesellschaftliche Relevanz und eine innovative Form, so wie er sie von früher kannte und in der Gegenwart kaum mehr wiederfand. Er reflektierte das Erstarken nationalreligiöser Kräfte, auch im Kinobetrieb, zeigte sich unerbittlich gegenüber rechtsradikalen, antisemitischen Tendenzen: „Gespenster sind zurück“ hieß einer seiner Artikel für die „Neue Zürcher Zeitung“. Dass der russische Bildungsminister öffentlich erklärte, mit Filmkunst nicht kreative Menschen erziehen zu wollen, sondern „qualifizierte Konsumenten“, erfüllte ihn mit Zorn. Für seine gründlichen, in Zeit und Raum mäandernden, aufklärerischen Texte, für die er in den Redaktionen selbstbewusst Platz einforderte, fand er in der deutschen Presselandschaft zunehmend weniger Abnehmer. Auch sein Buchprojekt mit Eisensteins Fragment „Grundproblem“ scheiterte am Desinteresse der Verlage.

So plagte ihn die Sorge, vom ohnehin schon engen „Markt“ der Filmpublizistik verdrängt zu werden; er durchlitt Zeiten unglaublicher Depression. Und er wollte seine Krankheit nicht wahrnehmen, die Folgen des Krebses, die fragile Luftröhre, die permanent entzündete Lunge. Ich werde es erzwingen, beschwor er; der Trotz gegen den körperlichen Verfall war sein Kapital. Nun starb Hans-Joachim Schlegel 74-jährig in seiner Berliner Wohnung. Weil er bis zum Schluss fest daran glaubte, wieder am „normalen Leben“ teilhaben zu können, hatte er kein Testament aufgesetzt. Seine riesige Bibliothek wird vermutlich an ein tschechisches Filminstitut gehen, ein Wunsch von ihm. Seine Bücher und Aufsätze aber gehören zum Bleibenden, was deutsche Filmpublizistik in den vergangenen 50 Jahren zu leisten imstande war.

Ralf Schenk

(Erstveröffentlichung im FILMDIENST. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des FILMDIENST und von Ralf Schenk)