»Die Zukunft des Kinos« (Teil 5)
Patrick Holzapfels Text ist der fünfte Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2016 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.
Zur erstaunlichen Entwicklung der Filmstars
Für seine sechsteilige Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. In Teil 5 geht es um die Rolle der Filmstars. Schon im frühen Kino entwickelten sich populäre Schauspieler zu einer zentralen Attraktion des Mediums; das Studiosystem des klassischen Hollywoods beruhte unter anderem auf dem gezielten Aufbau von Stars und der Kontrolle ihrer Images. Was ist daraus im Blockbuster- und Multimedia-Zeitalter geworden? In »Jurassic World« wird Schauspieler Chris Pratt beispielsweise mit allen gängigen Mitteln des Hollywood-Kinos als Held inszeniert; trotzdem ist seine Rolle als Filmstar des Blockbuster-Zeitalters eine ganz andere, als sie es etwa für »Klassiker« wie Clark Gable oder John Wayne war. Chris Pratt dient als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Bedeutung der Stars fürs vergangene, aber auch fürs gegenwärtige Kino.
In »Jurassic World« (2015) von Colin Trevorrow wird der Held, gespielt von Chris Pratt, durchgehend als solcher präsentiert. Die Kamera fährt auf ihn zu, blickt von unten entlang seines Körpers steil nach oben oder lässt ihn als Silhouette im Gegenlicht der Sonne erscheinen. Vor allem die Zufahrten vergessen nie, darauf zu verweisen, dass sie fabriziert sind. In ihnen erscheinen der Körper und der Gesichtsausdruck des Schauspielers wie ein in Zeit gemeißelter Endpunkt. Es ist, als wäre die Fahrt eine Frage, die an ihrem Ende, im Gesicht des Protagonisten, eine Antwort erhält. Dem Zuschauer macht das unmissverständlich klar, dass Pratt ein außergewöhnlicher Charakter sein soll. Man soll die Luft anhalten und dann auf ihn reagieren. Diese Strategie des amerikanischen Kinos kennt man seit einem Jahrhundert. Pratt selbst dagegen legt nicht nur diese Rolle mit einer Nonchalance an, die immerzu sagt: Ich bin nicht bereit für eine Nahaufnahme. Aber es ist mir egal, wenn ihr sie trotzdem macht. Pratt will nie wie ein Filmstar wirken. Er sieht auch nicht so aus. Vielmehr ist er ein netter Kumpel, ein cooler Typ; etwas gemein könnte man sagen, dass er völlig aussagelos daherkommt. Womöglich lässt sich aus ihm etwas für die Frage nach den Filmstars gewinnen.
Seit der gewerblich orientierten Professionalisierung des Filmschauspiels in den 1910er-Jahren sind Filmstars ein wichtiger Faktor des Kinos. Das gilt auf der einen Seite für die Zuschauer, die sich mit ihnen identifizieren. Man blickt auf zu den ins Licht getauchten Gesichtern, die selbst schlechte Filme transzendieren. Ein ganzer Filmdiskurs entzündet sich um Fragen der Stars. Es geht dabei um Projektionen, die von Liebe, Abstoßung oder Bewunderung bis hin zu Imitation reichen. Das gilt auf der anderen Seite auch für die Produktionsfirmen, die nicht nur in Hollywood Systeme entwickelten, um Stars zu kreieren und aufzubauen. Denn in erster Linie ist der Filmstar ein materieller Wert, eine »Marke« auf einem unübersichtlichen Markt. Von den ersten Stars über Koryphäen wie Greta Garbo, Gary Cooper, Marlene Dietrich oder Humphrey Bogart über die Rebellen der 1950er- und 1960er-Jahre wie Marlon Brando hat sich das, was als Star wahrgenommen wird, inzwischen extrem ausdifferenziert. Die größte Veränderung – und das gilt auch für Pratt – besteht darin, dass die Bekanntheit eines Stars immer weniger an den Filmen hängt, in denen er oder sie spielt.
Von Anfang an war es im Stardiskurs wichtig, die Personen hinter den Schauspielern kennenzulernen. Inzwischen hat das persönliche Image jenes auf der Leinwand abgelöst. Darsteller wie Jamie Foxx, Emma Stone oder Will Ferrell geben ihre zum Teil besten Perfomances in Talkshows, Comedy-Formaten und Fernsehserien. Chris Pratt hat sich beispielsweise einen Namen mit mehr oder weniger humorvollen Behind-the-Scenes-Fotografien gemacht, die nicht nur über Soziale Medien, sondern eben auch in TV-Formaten zur Bewerbung des Films eingesetzt werden. Es geht nicht mehr darum, dass ein Bild auf der Leinwand jene des Films übersteigt, sondern darum, dass das Bild jenseits der Leinwand den Film vergrößert. Das hat auch damit zu tun, dass es nicht mehr die Studios sind, die in den USA ihre Stars wie Haustiere und Namensschilder zugleich halten, sondern die Darsteller deutlich größere Freiheiten beim Aufbau ihrer Star-Persona haben. Es ist deshalb nicht mehr unbedingt das Studio, das mit Pratt Werbung für einen Film macht, sondern Pratt und sein Management überlegen sich, wie er mit sich selbst Werbung für seine Filme (und gleichzeitig für sich selbst) machen kann. Dadurch bauen sich Darsteller einen Wert auf, der sie für viele Produktionen unabdingbar macht. In dieser Verschiebung liegen viele Probleme begründet. Blickt man zum Beispiel auf viele unabhängige Produzenten in den USA, scheint ihre einzige Finanzierungsstrategie darin zu bestehen, die immer gleichen Darsteller in ihren Filmen zu besetzen. Auf diese Weise standardisiert sich ihr Kino, und es verarmt auch in vielerlei Hinsicht.
Die Bilder vor und hinter der Leinwand sind beide hochgradig konstruiert und ergänzen sich bestenfalls. Durch ihre Persona vermitteln Stars auch eine Ideologie, die im Erfolgsfall mit dominanten gesellschaftlichen Werten der jeweiligen Zeit harmoniert. Auch darin gab es in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen. Vor allem gilt das für weibliche Stars, die nicht mehr auf männliches Begehren ausgelegt sind. Es darf bezweifelt werden, ob Joan Crawford heute noch als »schwierig« und als Ausnahme gelten würde. Die politischen Neuordnungen bedingen aber auch eine Änderung von Werten in unterschiedlichen Gebieten der Welt. So kann man trotz des besorgniserregenden Revivals der 1980er-Jahre den amerikanischen Actionstar dieses Jahrzehnts heute oftmals nur mit einer Portion Ironie ertragen. Diese Ironie ist es womöglich, die in Pratt aufgeht. In ihr liegt eine Distanz zur eigenen Rolle, die die Figur für ein großes Publikum wieder glaubhaft macht. Pratt gibt sich fast als jemand, der seine eigene Rolle beobachtet.
Hatte man mit Darstellern wie Gary Cooper immer das Gefühl, dass man neben der Rolle auch die Persona des Schauspielers dahinter sieht, so sieht man bei Pratt eigentlich fast keine Rolle mehr. Chris Pratt spielt Chris Pratt, den Filmstar, der in kuriosen Welten landet. Manchmal sind diese kuriosen Welten das Weltall, manchmal lebt er mit Dinosauriern und manchmal sitzt er bei Jimmy Fallon in der Tonight Show. Es macht keinen Unterschied. Er ist immer derselbe Pratt, so wie Jennifer Lawrence, die eine talentiertere Schauspielerin ist, sich darauf eingelassen hat, immer Lawrence zu sein. Wichtiger als das tatsächliche Schauspiel ist die Glaubwürdigkeit der Person hinter dem Schauspiel. Polemisch könnte man fragen, ob die Fähigkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, überhaupt keine Bedeutung mehr besitzt und man streng genommen auch Musik- oder Sportstars in Hauptrollen besetzen könnte. Aber hier besitzt das Kino dann doch noch einige Argumente gegen die Marktorientierung.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, über die Eigenschaften und Werte nachzudenken, die ein Filmstar vertritt. Sie werden letztlich verkauft. Wenn Zuschauer heute in einen Liam-Neeson-Film gehen, dann haben sie bestimmte Erwartungen. Neeson spielt häufig den harten, kompromisslosen Rächer. Eine Rolle, in die er erst spät in seiner Karriere hineingewachsen ist. In den 1930er-Jahren hätte es nicht so lange gedauert. Potenzielle Stars wurden von den Studios in unterschiedlichen Rollen ausprobiert, und sobald das Publikum auf eine Rolle besonders ansprang, wurde damit weitergearbeitet. Heute ist es für den Darsteller hingegen wichtig, öffentlich mit diesen Implikationen zu spielen. So trat Neeson in einer Talkshow auf und las mit seiner Rächerstimme Kindermärchen vor. Es geht um eine Komplizenschaft zwischen dem augenzwinkernden Darsteller und seinen Fans oder besser: seinen Followern. Der Star kommuniziert, dass er eigentlich einer von uns ist, egal wie viele Menschen er in seinen Filmen tötet.
Es stellt sich aber auch eine andere Frage: Wer ist eigentlich dieser Chris Pratt? Ist er nicht unendlich austauschbar? Braucht das Kino noch eine wirkliche Person, oder geht es nur um leere Projektionsflächen, in die man sein eigenes Gesicht einsetzen kann?
Virtual Reality könnte einen Schritt in diese Richtung bedeuten. Die Annäherung an Gaming-Technologien, in denen man seine Helden nach eigenen Vorzügen gestalten kann, ist für die auf Identifikation schielende Form des Kinos ein logischer Schritt. Die Erfolgswelle der Superheldenfilme handelt auch von dieser Tendenz. Schließlich hat der Blick hinter die Maske in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung verloren. Es sind die Kostüme und Masken, die sich verkaufen. Niemand spricht von einem neuen Film mit Christian Bale oder Ben Affleck, wenn es um eine Rolle wie Batman geht, alle sprechen von einem neuen Batman-Film. Man hat das Gefühl, dass das Geheimnis des Gesichts unter der Maske deutlich weniger interessant ist als die Identifikation mit der Maske. Die letzten James-Bond-Filme arbeiten im Gegensatz dazu fast anachronistisch, werden aber auch nicht müde zu betonen, wie kaputt und menschlich ihr Held doch ist. Die Faszination beruht allerdings nicht darauf, dass Daniel Craig erschöpft aussieht, sondern dass James Bond so aussehen kann. Auch hier ist es nicht der Filmstar, mit dem sich der Zuschauer identifiziert, sondern die Rolle.
In einer Welt, in der Begriffe wie Anonymität und Diversität zunehmend ihre Konturen verlieren, sind solche Entwicklungen nur allzu logisch. Die Superhelden sind stabiler, in gewisser Weise auch vertrauenswürdiger als die alternden Schauspieler. Unter der Spiderman-Maske sehen alle gleich aus. James Bond wird niemals sterben. Das Kino, das einmal dafür gerühmt wurde, dass es Zeit darstellbar mache, arbeitet daran, dass die Zeit stehenbleibt. Nichts soll sich verändern, die ewige Jugend in den Gesichtern, die gleichen Filme wie vor 20 Jahren, die gleichen Helden immer wieder. Ein Filmstar ist in dieser Welt ein Risikofaktor, denn er könnte sich verändern. Darsteller wie Pratt oder auch Ryan Gosling passen perfekt in dieses Schema. Sie spielen fast ausdruckslos, immer so, dass man sich selbst in ihre Gesichter setzen kann. Dabei könnte durchaus eine Distanz entstehen oder ein spannender Verfremdungseffekt. Man denke an die Schauspieltechniken bei Robert Bresson. Aber die eingangs geschilderte Hollywood-Strategie und aller Hollywood nachahmenden Industrien verhindert dies. Kamera, Montage und Musik arbeiten immer noch so, als stände dort ein lebendiger Mensch. Letztlich aber gilt die Kamerafahrt auf den Schauspieler hin nur einem Spiegelbild, dem größten Helden unserer Zeit.
Die allgegenwärtige Präsenz von Filmstars nimmt ihnen bis zu einem gewissen Grad auch das Magische, Übermenschliche. Frauen und Männer, die vom Himmel gefallen scheinen, werden rar. Das ist nicht unbedingt ohne Vorteile, doch da auf diese Weise auch die Verkörperung von Werten durch Vorbilder verloren geht und die Möglichkeit, zu den Sternen aufzublicken, büßt das Kino auch eine spirituelle Kategorie ein.
Der ideale Filmstar der Zukunft ist ein toter Star. Die zeitlosen Stars leben alle in der Vergangenheit, sie werden oft erst posthum geboren. Achtet man darauf, wie vor allem in den sozialen Medien in den letzten Jahren mit dem Tod von Schauspielern und berühmten Regisseuren umgegangen wird, erkennt man, dass hier die Starphänomene noch anhand einer differenzierenden Identifikation greifen, nicht in subjektiver Gleichschaltung. Beim Tod von Jeanne Moreau oder Jerry Lewis werden deren individuelle Qualitäten vor und hinter der Kamera betont; es setzt ein gemeinsames Feiern ihrer Fähigkeiten ein, indem Bilder, Videos und andere Materialien der Stars umhergehen. Es existieren bereits zahlreiche Kinos, die auf den Tod von Stars mit spontanen Screenings reagieren. Das Starsystem der Zukunft könnte diese posthume Auswertung des Werts eines Stars noch vorantreiben. Von Retrospektiven über Streaming-Reihen bis zu Fanartikeln scheint in dieser Form von Trauerkultur vieles möglich. Allerdings hält diese öffentliche Aufmerksamkeitsspanne häufig nur einige Tage. Hier könnte das Kino einspringen und erneut beweisen, dass es keine fortschreitende Zeit mehr gibt; ein Filmstar wäre dann jemand, der ewig lebt. Im Tod wird die Relevanz eines Stars sichtbar – und dadurch auch sein oder ihr aktueller Wert. Selbst die transzendierende Ungreifbarkeit kehrt zurück, was sich schon darin zeigt, wie hoch bislang unbekannte Informationen über einen Filmstar plötzlich geschätzt werden und wie sehr in den Fokus rückt, dass dieser Star ein Mensch gewesen ist.
Es ist verlockend, darüber nachzudenken, was passiert, wenn Chris Pratt einmal stirbt, und man versucht sich dagegen zu wehren, dass die Antwort »gar nichts« lauten könnte. Aber wissen wird man das erst, wenn es soweit ist. Denn wenn die Entwicklungen von allgemeinen und individuellen Filmstars in den vergangenen Jahrzehnten eines gezeigt haben, dann das, dass sie auf äußerst dynamischen, kulturell unterschiedlichen Kategorien basieren, die im Guten wie im Schlechten weit über das Kino hinausreichen.
Patrick Holzapfel
FILMDIENST 19/2017, 14.09.2017
Foto: Chris Pratt in »Jurassic World«, Copyright Universal Pictures