1967–1946 – Der unmögliche Flirt

»Die Zukunft des Kinos« (Teil 4)

Patrick Holzapfels Text ist der vierte Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2016 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.

 

Cinephilie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

„If cinema can be resurrected,
it will only be through the birth
of a new kind of cine-love.“
Susan Sonntag in: „The Decay of Cinema“ (1996)

Für seine sechsteilige Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. Im vierten Teil geht es um die Cinephilie, die einst auf animierend-ansteckende Weise die Geschichtlichkeit und Einzigartigkeit des Films deutlich machte. Heute findet sie sich immer noch in vielen Ansätzen im Internet – wobei sich eine solche „digitale Cinephilie“ erst noch ihrer Rolle als Vermittler des Kinos bewusst werden muss.

Versteht man den problematischen Begriff „Cinephilie“ als historische Praxis, die bestimmte soziale und politische Rahmenbedingungen erforderte, wie sie am prominentesten im Frankreich der Nachkriegszeit vorhanden waren, dann ist es ein Leichtes zu sagen: Cinephilie gibt es heute nicht mehr. Der gern zitierte Text „The Decay of Cinema“ von Susan Sontag, der den Tod der Cinephilie beschwor, legt davon Zeugnis ab. Nähert man sich aber dem Phänomen als zentrale und veränderbare Praxis eines filmkulturellen Diskurses, dann kann man feststellen, dass Cinephilie sehr lebendig ist, ja, dass sie essenziell und hoffnungsstiftend für den Fortbestand des Kinos ist.

Sicherlich gibt es keine Definition von „Cinephilie“. Im Rahmen dieses Textes soll sie als die besonders intensive Ausprägung einer Kultur verstanden werden, die sich rund um das Kino entzünden kann – wobei sie sich heute lieber an sich selbst zu entzünden scheint.

Der zurückliegende Blick

François Truffaut, der feine Anzüge trug und frisch gekämmt war, wenn es Filme von Jean Renoir zu sehen gab, Jacques Rivette, der jeden Tag mindestens drei Filme im Kino sah: nerdige, schmale Jungs, die sich immer in der ersten Reihe in ihre Kinosessel drückten und rauchend jedes Bild aufsogen, die dann stundenlang diskutierten, darüber schrieben und die Wahrnehmung des Kinos auf den Kopf stellten. So oder so ähnlich stellt man es sich vor, das Paris der Nachkriegszeit, die Geburt der „Nouvelle Vague“, man denke nur an die Klischeebilder aus Bernardo Bertoluccis „Die Träumer“ (2003).

Natürlich greift das zu kurz. Schließlich gab es Filmkultur in anderen Ausprägungen bereits Jahrzehnte zuvor und vor allem auch an anderen Orten. Dennoch lässt sich bis heute am Beispiel der Grande Nation rund um essenzielle Figuren wie André Bazin, Henri Langlois oder Jean-Luc Godard veranschaulichen, was mit der Filmkultur und Cinephilie wachsen kann. Es geht dabei eben nicht nur um einige Filmbegeisterte, sondern um eine moralisch, politisch und ästhetisch motivierte Euphorie für das Medium, die verschiedene Kanäle sucht, um die Bedeutung des Kinos in einem öffentlichen Diskurs greifbar zu machen. Die Cinephilie vermag am Kino interessierten Menschen die Geschichtlichkeit und Einzigartigkeit des Films deutlich zu machen. Dies kann ansteckend sein.

Zu ihren Ausdrucksformen gehörten in den 1940er- bis 1960er-Jahren weltweit Filmclubs, Filmzeitschriften, Kinematheken und Filmschulen. Letztere zum Beispiel waren in den USA entscheidend für die Generation der so genannten Film-Buffs rund um George Lucas, Martin Scorsese und Francis Ford Coppola, die eine Phase einleiteten, die heute als „New Hollywood“ bekannt ist. Anhand dieser Namen lässt sich erkennen, dass der cinephile Diskurs dieser Jahre eng an einen Dialog zwischen Schreiben und Filmemachen geknüpft war. Das liegt zum einen an ganz persönlichen Motivationen der prägenden Figuren dieser Epoche, die eben etwa in der „Nouvelle Vague“ zu großen Teilen von Anfang an einen Impuls ins Filmemachen hatten. So macht es große Freude, die 2016 entdeckten Kurzfilme „Aux quatre coins“, „Le quadrille“ und „Le divertissement“ von Jacques Rivette mit dessen zeitgleich entstandenen Texten, etwa über Howard Hawks, zu vergleichen. Man sieht dann, dass Kino und Kritik der gleichen Bewegung folgten.

Zum anderen ist das Entstehen einer Cinephilie im Regelfall an die Existenz eines schriftlichen Diskurses gebunden, da das cinephile Begehren, das Serge Daney auch einen „unmöglichen Flirt“ nannte, eng an die Filme geknüpft ist, die man noch sehen will, die noch warten im großen, unübersichtlichen Meer des Kinos. Eine große Menge an Filmemachern allein genügt nicht für eine Filmkultur – es braucht einen Rahmen, der sich aus Denken, Lesen, Reden, Schreiben und anderen Praktiken ernähren kann. Man könnte sagen, dass diese Formen das Kino erweitern.

„Cinephilie ist eine Krankheit.“
Hans Hurch, bis zu seinem Tod (2017) Direktor der „Viennale“

Viele dieser Praktiken, die auf Grund der enormen Dominanz der „Nouvelle Vague“ im filmhistorischen Gedächtnis noch immer sehr präsent scheinen, haben sich mit der Zeit stark verändert. So spielen Filmschulen nur in Ausnahmefällen eine Rolle im cinephilen Diskurs. Längst haben sie (zumindest in Deutschland) ihren Fokus auf eine technische Ausbildung, der immer schon angelegt war, verschärft. Im Iran beispielsweise ist das anders. Dort wird an der von Abbas Kiarostami mit ins Leben gerufenen Filmschule als Eingangsprüfung die „Cinephilie“ der Anwärter geprüft. Am schwerwiegendsten und sicher auch für Susan Sontag am wichtigsten ist indes die Veränderung unseres Sehverhaltens. Mit der Verfügbarkeit von Filmen im Heimgebrauch wankt auch die Idee, dass das Kino, wie Chris Marker und Godard betonten, größer ist als wir. Dadurch wurde der Gestus, die Leidenschaft und die Relevanz einer über Jahrzehnte dominanten Form der Filmkultur ins Nichts geführt.

Der digitale Blick

Aus diesem Nichts haben sich inzwischen andere Formen und neue Ansätze zur Filmkultur geschält. Allgemein kann man sagen, dass die elitäre Idee eines cinephilen Lebenstils inzwischen von einem Fleckenteppich unterschiedlicher Ansätze abgelöst wurde. Vordenker auf dem Gebiet einer neuen Cinephilie (oder auch „Cinephilie 2.0“) sind Filmtheoretiker wie Girish Shambu oder Adrian Martin. Tatsächlich kann man heute im Internet – wie noch vor einigen Jahren in Videotheken – neue Ausprägungen von Filmkulturen entdecken: eine digitalisierte, in vielerlei Hinsicht auch amerikanisierte Form der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kino. Diese Amerikanisierung hängt daran, dass das Internet mit kapitalistischen Einschränkungen João César Monteiros marxistisch inspirierten Aufruf zur Vereinigung der Cinephilen aller Länder wahrmacht. Nicht nur kann man sich heute, je nach persönlichen Vorlieben, ein „FilmTwitter“ oder „FilmFacebook“ aufbauen, in dem man dann mit Gleichgesinnten aus unterschiedlichsten Kulturen über Filme diskutiert, Kontakte knüpft, Texte austauscht oder Programme zusammenstellt; zugleich löst sich damit auch die Idee einer Filmkultur von der Notwendigkeit einer Großstadt mit Kinematheken und vielen Kinos.

„Ein Cinephiler ist jemand, der zu viel vom Kino erwartet.“
Serge Daney, französischer Filmkritiker und Cine-Fils par excellence

Englisch ist an diesem „Nicht-Ort“ der Cinephilie die logische Sprache. In Form von Download-Links und Streams kommt das Kino zu jedem, der es sucht. Die Erfahrung lehrt, dass gerade in diesen Konstellationen paradoxerweise die Frage nach dem Medium und das Analoge des Kinos verteidigt werden. So erfährt man in bestimmten Kreisen eben nicht nur von diversen Links, sondern auch von öffentlichen Vorführungen auf Film. Jean-Marie Straub sagte einmal, dass er sehr froh sei, dass seine Filme auf YouTube verfügbar seien, weil sie dann von mehr Leuten gesehen würden.

Unübersichtliche Vielstimmigkeit im Web

So in etwa klingt die ideale Welt der neuen Cinephilie, die sich theoretisch freier bewegen kann und verschiedene Stimmen, Ansätze und Meinungen zum Kino zulässt. Man kann sagen, dass die so genannte Blogosphäre, die zahlreichen Listen und die Sozialen Medien ein weiterer Kanal für die Cinephilie sind. Wobei hier auch die Einschränkungen beginnen: Auf Grund der Art und Weise, wie Soziale Medien mit uns arbeiten, entsteht sehr leicht das Gefühl einer Isolierung der Cinephilie. Natürlich haben auch die Autoren der „Cahiers du cinéma“ nicht für alle Menschen geschrieben, aber alle Menschen konnte ihre Gedanken lesen, wenn sie wollten. Die neue Cinephilie ist da im Vergleich selbstgenügsam. Wenn Filmkultur aber prägend für den Fortbestand des Kinos ist, dann muss sie einen Dialog mit all jenen anstreben, die das Kino nur potenziell lieben.

Stattdessen spaltet sich die Filmkultur sogar in sich selbst auf, weil jeder Nutzer die Möglichkeit nutzen kann und muss, den immensen, unübersichtlichen Output der Filmkultur nach persönlichen Vorlieben zu filtern. Durch die gegenseitige Motivation entstehen zwar oft eindrucksvolle Arbeiten, die aber in vielen Fällen nicht über die Grenzen der eigenen „Social-Media-Blase“ hinauskommen. Dadurch fehlen oft Diskussionsgrundlagen oder eine gemeinsame Idee des Kinos. Das kann gut oder schlecht sein, birgt aber in sich die Gefahr einer Willkür des Diskurses. Dies schlägt sich heute in den tausenden Festivals und zigtausenden Filmen in der Unsicherheit darüber wieder, was gemeinhin unter relevantem Kino verstanden wird.

Eine der schlimmsten Ausprägungen dieser unübersichtlichen Vielstimmigkeit sind Websites wie „Rotten Tomatoes“, die versuchen, daraus eine Einstimmigkeit zu machen, indem sie verschiedene Meinungen zu einem Film in Prozentpunkten zu einer einzigen, pseudo-objektiven Wertung zusammenfassen. Damit verwandt ist eine Tendenz, die Cinephilie und Filmkultur wegführt von Ideen der Vermittlung, hin zu einem pubertären Wettlauf darum, wer die meisten und seltensten Filme gesehen hat. Weit entfernt davon einen Kanon zu fordern, ginge es schon darum, die Filmkultur ein wenig aus ihrer reinen Subjektivität zu lösen, die erst das digitale Zeitalter ermöglicht hat. Denn Abwesenheiten an tatsächlichen Orten, das monate- oder gar jahrelange Warten auf Filme und die oft thematisierte professionelle Filmkritik haben mehr als nur eine Berechtigung, sie sind ein entscheidender Faktor dafür, dass Kino atmen kann. Manchmal ist es womöglich besser, einem einzelnen Text, den man nicht mag, ausgeliefert zu sein als sich immer den aussuchen zu können, der die eigene Meinung untermauert. Nichtsdestotrotz: Formate wie Video-Essays, Mikro-Kritiken, Screenshots oder Blogs haben den Möglichkeiten eines cinephilen Diskurses eine große Palette an Ausdrucksmöglichkeiten hinzugefügt.

Der Blick in den Spiegel

Im Hinblick auf die Zukunft des Kinos ist entscheidend, dass sich die Cinephilie ihrer Rolle als Vermittler des Kinos bewusst wird. In den vergangenen 20 Jahren entstanden viele Bücher und Texte (wie auch der vorliegende), deren Thema die Cinephilie selbst ist. Dasselbe gilt für die Filmkritik, die sich gerne selbst thematisiert. Natürlich sind diese Blicke in den Spiegel wichtig. Sie sind auch Ausdruck und Verarbeitung einer Medienkrise. Nur: In dem Augenblick, in dem sich der Diskurs um das Kino selbst zum Thema macht, stellt er sich über das Kino. Als Godard sagte, dass man im Kino zu etwas aufsieht und beim Fernsehen auf etwas herabblickt, hat er vielleicht auch dieses sich selbst in den Mittelpunkt stellende Verhalten der Filmkultur vorausgeahnt.

Das greift natürlich etwas kurz, veranschaulicht aber die Meta-Wirrungen der vergangenen Jahre im Medienwandel. Ein Grund für diesen selbstreflexiven Blick liegt auch in der größeren Zeit und in der Kontrolle, die eine cinephile Praxis heute mit sich bringt. Den VCL-Player, die DVD oder den Stream können wir in der Regel stoppen, wir können scrollen, spulen und so weiter. Die Diskussion können wir beliebig unterbrechen und fortführen, den Text können wir beliebig mit Musik, Videos, anderen Texten oder Dialogen kombinieren. Nicht dem Film widmen wir dabei unsere volle Aufmerksamkeit, sondern vor allem unserer eigenen Auseinandersetzung mit ihm. Wir können uns das Kino bequem machen. Dadurch entsteht die Gefahr einer Komprimierung. Nicht nur des Kinos, sondern letztlich der Filmkultur.

Es wird darauf ankommen, dass die Filmkultur nicht das verliert, wofür sie kämpft. Womöglich ist das inzwischen weniger das Recht auf Freiheit, wie es in der „Nouvelle Vague“ betont wurde, sondern ein Diskurs, der zu einer Abgrenzung des Kinos zurückführt. Nicht, um es zu isolieren, sondern um bewusst zu machen, was Kino zu leisten im Stande ist, welche Arbeit dafür von Nöten ist und welche Liebe. Dafür würde es sich lohnen zu kämpfen.

Patrick Holzapfel

FILMDIENST 16/2017, 03.08.2017