1999-1977 – Distribution und Ideologie

»Die Zukunft des Kinos« (Teil 2)

Patrick Holzapfels Text ist der zweite Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2016 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.

 

Moderne Zeiten – Auf der Suche nach einer Idee des Kinos

Für seine sechsteilige Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. Im zweiten Teil geht es um Formen von Distribution und Ideologie – und deren Zusammenspiel.

Tausende Zuschauer versammeln sich festlich und entspannt auf einem großen Platz. Es ist Nacht, ein sanfter Wind löst die drückende Hitze des Tages, jemand tupft sich sanft die schwitzende Stirn. Man hört kräftige Töne von Instrumenten, die im Orchestergraben unter einer riesigen Leinwand von den Musikern gestimmt werden. Manche setzen sich auf den warmen Asphaltboden, die Hände neben den Ameisen, es gibt keine freien Stühle mehr, Polizisten patrouillieren durch die Menschenmenge. Gezeigt wird Charlie Chaplins „Modern Times“. Es geht los. Begeistert richten sich weit aufgerissene Kinderaugen auf die ersten Bilder der Leinwand, ein älterer Herr tippt in Harmonie mit seinem Lachen seinen Gehstock auf den Boden, ein junges Pärchen küsst sich freudig. Am Ende gibt es frenetischen Applaus, die Menschen stehen auf und klatschen für das Orchester, den Film, das Zusammensein.

Was wie der nostalgische Bericht aus einer Zeit klingt, in der sich das Kino als Massenkunst verstand, trug sich 2016 im Rahmen einer Freiluftvorführung beim Festival „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna zu. Es mag ein Film aus einer anderen Zeit gewesen sein, aber es regten sich dennoch gegenwärtige Träume in denen, die sich dort versammelten. Man spürt immer noch, dass Chaplin in seinen Filmen etwas erzählt, was gegen die Industrie arbeitet, in der er seine Werke realisieren konnte. Nur: Kann man einem kollektiven Traum wie der friedlichen Massenwirkung von „Modern Times“ (1936) noch trauen?

Die Brücke zwischen Kunst und Kommerz liegt in Trümmern

Es ist die Brücke zwischen Kunst und Kommerz, die bei Chaplin und anderen Filmemachern des klassischen Hollywoods so stabil ist und durch die Zeit standhält, während wir sie heute mehr und mehr als unüberwindlichen Trümmerhaufen wahrnehmen. Ein Trümmerhaufen, bedingt durch Produktionsweisen, wie sie seit den 1970er-Jahren – und doch eigentlich schon immer – forciert werden. Manager wie Steven Spielberg oder George Lucas haben ein Monster erschaffen, das sich seither verselbstständigt hat. Damit ist die bis zum Anschlag gespreizte Schere zwischen Blockbuster-Filmen und Low-Budget-Filmemachern gemeint. Auf der anderen Seite hängt die Kluft zwischen Kunst und Kommerz im Kino auch an den beständigen Kategorisierungen, die durch Investoren, Medien und selbst Filmemacher vorgenommen werden. Ein Film, so argumentieren viele, wäre entweder für ein Festival geeignet oder für ein Publikum.

Das Kino ist ein Kontinent der Stereotypen. Filme, die sich außerhalb vorgefertigter Schablonen bewegen wollen, haben es von der Förderung bis zum Vertrieb äußerst  schwer. Dabei war das Kino eigentlich nie so vielfältig und zugänglich wie heute. Diese Vielstimmigkeit zu erkennen, ist die eine Sache, sie zuzulassen, etwas anderes. Hinzu kommt, dass das Kino ein bisweilen kurioses Sammelsurium an Ideologien ist, ein Träger bestimmter Weltanschauungen. Was nur mehr schwer zu finden ist, ist das Kino als Ideologie, die Kino-Ideologie: Kaum noch jemand hält es außerhalb Frankreichs für notwendig, sich über das Wesen von bewegten Bildern Gedanken zu machen – und auch dort ist die Bildtheorie seit längerer Zeit eher eine Theorie des Bedauerns, keine des Gegenwartsbezugs. Die Arbeitsweise von Bildern wird als gegeben hingenommen, und das Einzige, was Filme jenseits ihrer Kategorisierungen noch zu unterscheiden scheint, sind die Geschichten, die erzählt werden. Und die Haltung zur Welt, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Aus dieser Drehbuch-Fokussierung entsteht dann eine fast logische Hinwendung zur Serie.

Kino irgendwo zwischen Zynismus und Spektakeltraum

Die Ideologie, die die filmische Form und die Produktionsbedingungen in sich tragen, wird an den Rand des kulturellen Diskurses gestellt. Folglich kann ein Blockbuster-Film in der allgemeinen Wahrnehmung das gleiche Maß an Liberalismus aufweisen wie ein unabhängig produzierter Film. Bilder, die Frauen unter das immer gleiche Regime männlicher Begierden zwängen, werden von vielen akzeptiert, wenn die Frauen mehr als zwei Charaktereigenschaften haben und so weiter. Nein, was fehlt, ist eine Ideologie des Kinos, eine Wahrnehmung des Kinos, die das Kino als eine genuine Sprache versteht. Aber vielleicht ist es sehr gut, dass wir von mehreren Kinos und mehreren Sprachen sprechen müssen und die eine gemeinsame Sprache nicht existiert. Vielleicht liegt gerade in dieser unübersichtlichen Vielfalt die Überlebensversicherung des Mediums.

Ist „Vielfalt“ aber nicht ein Euphemismus für eine totale Überforderung, Willkür oder (bei vielen Festivals wie der „Berlinale“) auch eine Politik, die es allen Recht machen will? Wenn es in den letzten Jahren so etwas wie eine Filmideologie gegeben hat, dann ist es die bequeme und schulterzuckende Mitte, die irgendwo zwischen Zynismus und Spektakeltraum dahinsiecht und jegliche Form von künstlerischer Radikalität, Modernismus, Formalismus oder inhaltlicher Kante in saubere Nischen verteilt, sodass alle die Schublade finden können, die am besten zu ihnen passt. Was daraus entsteht, ist Vorhersehbarkeit und damit eine Ideologie der Bestätigung. Was bei den Filmen beginnt, endet noch lange nicht bei den Multiplexen und Streaming-Anbietern, deren Filmauswahl nach kalkulierbaren Kriterien abläuft. Das Kuratieren verliert seine in der Wortbedeutung angelegte Sorge und verkommt zur Dienstleistung.

Der russische Filmemacher Alexander Sokurow äußerte sich einmal besorgt über die Demokratisierung des Kinos. Er meinte, dass eine Kunst, die für den größten gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft arbeite, ihre Wirkkraft verliere. In einem Land, in dem Matthias Schweighöfer und Til Schweiger die Kinocharts dominieren, können wir das nur zu gut nachempfinden. Auch ist es bezeichnend, dass Kino oft dort aufblüht, wo eine starke Ideologie (meist brutal) ihr Ende erlebte und die Filmemacher einer nachkommenden Generation ein offen formuliertes und von der alten Ideologie befreites Kino machen wollen. Roberto Rossellini etwa betonte nach Mussolini immer wieder dieses Vorhaben, das man heute etwa von Filmemachern des Neuen Rumänischen Kinos zu hören bekommt. Aus der Umgehung offensichtlicher Ideologien entsteht oft eine neue Haltung, die dem Kino zugehörig scheint. Sie wurde an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten mit Begriffen wie Realismus oder Humanismus umschrieben. Womöglich aber ist sie einfach der Angriff auf eine Ideologie, die sich in den Köpfen eines Volks festgesetzt hat. Dann wäre das Kino ein besserer Zerstörer von Ideologien als ihr Träger.

Das Kino gerät unter immensen Aktualitätsdrang

Was man insbesondere in politisch aufgeheizten Phasen, wie man sie dieser Tage erlebt, beobachten kann, ist ein immenser Aktualitätsdrang. Ähnlich dem Slogan, den die Produktionsfirma Warner Bros. in den 1930er-Jahren für ihre Gangsterfilme verwendete, nämlich „Snatched from Today’s Headlines“, werden Filme heute gerne auf ihren Bezug zur Realität hin abgeklappert. Interessant ist dabei, dass es eher um eine Geisteshaltung zu gehen scheint als um reale Probleme des Alltags, die zum Beispiel im PreCode-Kino der US-amerikanischen Depressionszeit zu finden sind.

Wie häufig konnte man in den letzten Wochen lesen, dass ein Film „dieses“ oder „jenes“ der Trump-Regierung widerspiegele, dass er Indikator sei für diese oder jene Situation im kriselnden Europa. Niemand aber mag darüber schreiben, dass großes Kino immer schon mehr von der Zukunft als von der Gegenwart gehandelt hat, dass Filme etwas Vergangenes vergegenwärtigen, dass sie etwas vor unseren Augen passieren lassen, das passiert ist. In diesem Passieren liegt natürlich ein assoziativer Bezug zur Gegenwart. Er ist unvermeidlich, aber er ist nicht zwangsläufig ideologisch in den Bildern angelegt. Man bedenke nur, dass Chaplin „Der große Diktator“ schrieb, bevor der Zweite Weltkrieg begann. Es war kein Projekt, das reagierte, sondern agierte. In einem späteren Interview äußerte Chaplin, dass er den Film nicht gedreht hätte, wenn er von den Konzentrationslagern gewusst hätte. Statt ein Indikator für etwas zu sein, hat er seinen Film zwar unter bestimmten gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Umständen realisiert, aber er hat ihn als Kino realisiert. Vielleicht war „Der große Diktator“ einer der letzten großen Filme zumindest im US-amerikanischen Kino, denn woanders gab es noch Rossellini, der eine nicht-intellektuelle Antwort auf eine menschliche Tragödie formulierte, bevor diese ins öffentliche Bewusstsein rückte. Hier besaß die Ideologie des Kinos noch die Bedeutung, dass man sich eine andere, bessere Welt vorstellen konnte.

Das Kino wird zum gigantischen Werbespot für eine Art zu denken

Auf der anderen Seite gibt es eine Geschichte des faschistischen Films, und die reicht über Leni Riefenstahl hinaus. Ihr „kleiner Bruder“ ist das reaktionäre Kino, das dominante Kino. Man denke an Jean-Luc Godards Frage: „Wie viele DeMilles für einen Dreyer?“ Der König im Reich der Reaktionäre war der brillante Howard Hawks. Die Blütezeit dieses Kinos in den USA waren die 1980er-Jahre, eine Zeit, die aufgrund der Präsidentschaft von Ronald Reagan heute besonders stark nachhallt. Diese Zeit wird gemeinhin als Katalysator für die aufklaffende Schere zwischen Kunst und Kommerz betrachtet, und in ihr war Hollywood mehr ein Stadtteil von Washington als von Los Angeles: das kulturelle Sendungsbewusstsein eines Staates als Propaganda einer Weltsicht.

Natürlich gab es in diesen Jahren zahlreiche Ausnahmen. Gleichwohl haben sie die Rambos im kulturellen Gedächtnis verankert. Eskapismus und Kommerz sind zwei vereinfachte Schlagwörter, mit denen das US-amerikanische Kino der 1980er-Jahre häufig betrachtet wird. Man registriert auch, dass die Kinder der 1980er-Jahre heute als Meinungsführer und Kuratoren eine Liebe zu diesem Kino propagieren und die Hinwendung zum Publikum als Wert verkaufen statt sie als Verkauf zu werten.

Ein europäisches Gegengewicht, das Filmemachen ähnlich ausgeglichen unter kommerziellen und ideologischen Gesichtspunkten betrachtete, fand sich eigentlich nur in Frankreich. Ansonsten herrschte – und das bereits lange vor den 1980er-Jahren – eine amerikanische Kolonialisierung der Bewegtbild-Wahrnehmung vor. Der Markt wurde geflutet mit bestimmten Bildern von Männlichkeit, wenigen Bildern von Weiblichkeit, Russen und Nazis als Bösewichtern, Familie und Sicherheit als höchsten Gütern und dem ewigen Streben nach Erfolg und Glück. Film wurde gezielt als Träger einer bestimmten Ideologie beziehungsweise bestimmter Ideologien verstanden, Kino als gigantischer Werbespot für eine bestimmte Art zu denken. Propaganda eben. Erstaunlich, dass man das Erbe dieses Kinos vor kurzem erst in einem Cannes-Filmpreis-Gewinner wahrnehmen konnte: in Jacques Audiards „Dämonen und Wunder – Dheepan“, der sich aus aktuellen politischen Fragen mit der Logik eines Sylvester-Stallone-Actionkrachers befreien wollte.

Der Testosterongehalt des heutigen Kinos liegt in seinem Zynismus

Auch heute gibt es Staatsformen des Kinos, etwa im Mainstream-Kino Chinas. Die USA dagegen betreiben ein Indikatoren-Kino, das zwar versucht, frei zu sein, sich aber immer wieder selbst bei ideologischer Ratlosigkeit erwischt. So gibt es keine politische Haltung des Kinos, aber auch keinen Ansatz, um politische Haltungen des Kinos zu umgehen. Vielmehr gibt es den rettenden Anker der „Political Correctness“, der oberflächlich jene Probleme zu beschreiben trachtet, die subversiv und manipulativ weiterwirken. Welche Energien freigesetzt werden können, wenn diese sich selbst erstickende Korrektheit angegriffen wird, musste man im Herbst 2016 in der Figur von Donald Trump erleben, konnte man aber auch anhand von Filmen wie „Deadpool“, „Nocturnal Animals“ oder „Sicario“ erahnen.

Es scheint so, als ob man in den USA heute besser einen Anti-Film machen kann als einen Film, besser: eine Anti-Politik als Politik. Nicht mehr in den Muskeln der Hauptdarsteller, sondern im Zynismus liegt der Testosterongehalt des Kinos. Die Kraft des Mediums spürt man nicht mehr in der gemeinsamen Zeit auf einem Platz in Bologna, sondern im Schulterzucken über die Größe eines Bildschirms. Wie „Deadpool“ wunderbar zeigt, kommt ein Film dann an, wenn er nicht die Ideologie eines Staats hinterfragt, sondern jene des Kinos, das aus diesem hervorgeht. In diesem Sinne zeigt „Deadpool“, dass das US-amerikanische Kino kein Träger oder Zerstörer von Ideologien mehr ist, vielmehr seine eigene Fähigkeit attackiert, Ideologien zu kommunizieren oder anzugreifen. Es scheint, dass das Bild der Feind oder der Freund ist, nicht aber die Realität.

Das lässt sich auch an positiven Gefühlen wahrnehmen, wenn etwa in „La La Land“ eine Nostalgie beschworen wird, die nicht an der Realität, sondern an Bildern hängt. Damit ist zugleich jene Kontrolle verbundene, die über die Bilder ausgeübt wird, die Kategorisierungen, Stereotypen und die Distributionsmodelle, denen das Kino folgt und die auf diesem Denken beruhen. Daraus entsteht ein Kino, in dem es scheinbar keine Ideologien mehr gibt, in dem Ideologien aber trotzdem wirken.

Nun ist es mit Schwierigkeiten behaftet, von Ideologien zu sprechen, in deren Wirkungsfeld man sich selbst befindet. Zudem kann nicht ignoriert werden, dass das Kino niemals einheitlich agiert. Es sind vielmehr Tendenzen. Viele erwarten in diesen aufwühlenden Tagen in den USA und anderswo Reaktionen und ein Durchrütteln dieser Tendenzen. Was dabei übersehen wird, ist, dass die Tendenz des breiten Kinos kapitalistisch ist. Um für eine breitere Masse ideologisch überhaupt wirksam zu werden, muss das Kino bereits Teil einer kapitalistischen Ideologie geworden sein, muss sich verkaufen. Diese Ideologie ist seit jeher reaktionär. Die modernen Zeiten eines Chaplin sind lange vorbei.

Wenn man also formulieren wollte, wie sich das Kino seine eigene Ideologie zurückerobern könnte, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass das System, in dem Filme gemacht und gezeigt werden, verändert werden muss. Mit dem anhaltenden Medienwandel im Rücken waren die Chancen dafür nie größer. In dieser Hinsicht ist es begrüßenswert, wenn ein Blockbuster wie „Ghost in the Shell“ floppt und ein verhältnismäßig kostengünstiger Film wie „Get Out“ zum Hit des Frühjahrs 2017 avanciert. Was aber bringt es, wenn „Get Out“-Regisseur Jordan Peele vermutlich als nächstes dann einen großen Blockbuster-Film machen darf?

Patrick Holzapfel

FILMDIENST 10/2017, 11.05.2017