Sven von Redens Text „Der Verlust der physischen Realität“ ist der erste Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.
Der Verlust der physischen Realität
Die Digitalisierung des Alltags stellt das Kino vor ein Problem: Unsere Lebenswelt entzieht sich immer mehr der filmischen Darstellbarkeit
Von Sven von Reden
Stellen Sie sich vor, Sie wollten ein Remake von „Modern Times“ (1936) drehen, einem der bedeutendsten Klassiker der Filmgeschichte. Natürlich nicht einfach eine Neuverfilmung, sondern eine Aktualisierung der Geschichte für die Gegenwart.
Zur Erinnerung: In „Modern Times“ kritisiert Charlie Chaplin die moderne Industriegesellschaft mit den Mitteln einer Stummfilmkomödie, also mit Hilfe von viel Slapstick und Körperhumor. Die Zurichtung des Individuums zur Arbeitsmaschine wird vor allem in der berühmten Eröffnungssequenz auf den Punkt gebracht Menschenmassen steigen ein U-Bahnschacht herauf; sie hetzen eine Straße entlang, im Hintergrund erhebt sich eine Kathedralen-große Fabrik. Rausch steigt aus ihren Schornsteinen. Funken sprühen. Der Arbeitstag beginnt. Mit einem Schwenk durch eine Werkhalle voller tonnenschwerer Schwungräder und schwitzender Arbeiter wird der Protagonist vorgestellt: Chaplin steht an einem Fließband und zieht mit zwei Schraubschlüsseln in mörderischem Tempo Muttern fest. Als er sich kurz kratzen muss, kommt er gleich in Verzug und bringt den ganzen Arbeitsablauf durcheinander. Immer wieder kann er die Geschwindigkeit des Fließbands nicht halten, bis es ihn irgendwann mitreißt. Erst als er schon von der Maschine verschluckt wurde, stoppt sie endlich. Doch Chaplin hat offenbar den Verstand verloren. Eingeklemmt zwischen den riesigen stillstehenden Zahnrädern dreht er immer noch wie in Trance alle Muttern in seiner Reichweite fest.
Wie könnte dieser Filmanfang heute aussehen? Wie ließe sich der mittlerweile postindustrielle Arbeitsalltag darstellen? Der heutige Chaplin würde wahrscheinlich nicht einmal seine Wohnung verlassen. Er hat seinen Home-Office-Tag. Verschlafen geht er von der Küche in sein Arbeitszimmer. Mit einem leisen Signalton fährt sein Computer hoch. Im Posteingang seines E-Mail-Programms warten schon dutzende Anfragen. Fenster poppen auf dem Bildschirm auf, die Finger fliegen über die Tastatur, die Maus kreist auf dem Schreibtisch. Der Computer stürzt ab, doch immer weiter klickt der rechte Zeigefinger auf die Maustaste. So könnte ein plausibler Anfang der Geschichte aussehen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Filmemacher: Wären sie überzeugt, mit diesen Bildern ein Publikum zu begeistern? Es gäbe keine Menschenmassen mehr, keine Maschinenhallen, keine dampfenden, funkensprühenden Ungetüme, keinen Schweiß, kein Muskelspiel, keinen Lärm – stattdessen lediglich einen Protagonisten, der stumm und fast regungslos mit einem Bildschirm kommuniziert. Nicht nur Bild und Ton wären langweilig im Vergleich zu „Modern Times“, auch für Körperhumor à la Chaplin böten sich kaum Gelegenheiten. Seine Physis würde schließlich kaum mehr eine Rolle spielen.
„Das Kino kann als ein Medium definiert werden, das besonders dazu befähigt ist, die Errettung physischer Realität zu fördern“ – so lautet einer der zentralen Sätze aus Siegfried Kracauers „Theorie des Films“. Schon vor mehr als 50 Jahren, als der Journalist, Soziologe und Filmtheoretiker sein Hauptwerk schrieb, sah er unser Denken bestimmt von wissenschaftlichen und technischen Abstraktionen, die uns zwar auf physische Phänomene verweisen, aber gleichzeitig von deren Qualitäten weglocken. Als eine Art Gegenmittel zu dieser Entwicklung propagierte er das Kino, das uns ermöglicht, „die Objekte und Geschehnisse, die den Fluss des materiellen Lebens ausmachen, mit uns fortzutragen“. Ziel müsse es sein, „die Realität nicht nur mit den Fingerspitzen zu berühren, sondern sie zu ergreifen und ihre Hand zu schütteln“.
Diese Aufgabe wird immer schwieriger für das Kino. Der Mensch schaut immer längere Zeit seines Lebens auf Bildschirme oder interagiert mit ihnen, nicht nur während der Arbeit, sondern auch in der Freizeit – selbst wenn er mit Familie oder Freunden zusammen ist. Er arbeitet, erschafft, kommuniziert nur noch mit seinen „Fingerspitzen“ und immer weniger mit dem ganzen Körper. Es findet also eine radikale Reduzierung der Gegenstände statt, mit denen er in Beziehung tritt. Deren Stelle nimmt die Universalmaschine Computer ein, die Musik macht, den Weg weist und das Spielzeug ersetzt – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ein Laptop, ein Tablet, ein Smartphone ist für die Kamera aber fast so undurchdringlich wie der schwarze Monolith aus Kubricks „2001“. Ein zunehmendes Problem für jeden Regisseur.
Erstaunlicherweise wurde dieses Thema bisher kaum öffentlich diskutiert. Das Für und Wider digitaler Effekte, das Ende von analogem 35mm-Material als Industriestandard, der Umstieg auf die digitale Projektion, die Gefahren einer digitalen Archivierung der Filmgeschichte – alle diese Entwicklungen werden seit Jahren kontrovers und mit viel Leidenschaft erörtert. Es erscheinen unzählige Artikel, Aufsätze und Bücher; in Diskussionen und auf Symposien streiten sich Experten; Gutachten werden geschrieben und neue Fördertöpfe geschaffen. Unterdessen hat sich das Kinoerlebnis für den normalen Zuschauer kaum geändert – sieht man von etwas schärferen Bildern und besserem 3D-Erlebnis ab. Die digitale Revolution im Kino ist eine weitgehend unsichtbare – das macht sie so gespenstisch. Die fortschreitende Digitalisierung unserer Lebenswelt verändert dagegen das, was wir auf der Leinwand sehen, nachhaltig.
Per E-Mail frage ich Christoph Hochhäusler, wie er mit diesem Problem umgeht. Der Berliner Regisseur und Drehbuchautor will eher von einem Phänomen sprechen, das ihn aber eigentlich täglich beschäftige. Monitore und Menschen vor Monitoren ließen sich schlecht filmen, schreibt er. Das habe er bei seinem Film „Die Lügen der Sieger“ festgestellt – einem Thriller, in dem ein investigativer Journalist die Hauptfigur ist. Dann wird er grundsätzlich: „Überhaupt frage ich mich oft, ob das Zeitalter des Sichtbaren (oder des Glaubens daran) endgültig vorüber ist, wenn man betrachtet, wie algorithmisch die Welt geworden ist, wie unsichtbar die Netzwerke sind, die Aktien steigen oder Länderratings fallen lassen. Die dem Kino inhärente Ideologie, wonach die Welt sichtbar (gemacht) werden kann, stößt jedenfalls immer öfter an ihre Grenzen, scheint mir.“
Ähnlich äußert sich Christian Petzold am Telefon. Dessen aktueller Kinofilm „Phoenix“ spielt zwar in der Vergangenheit, er bereitet aber gerade seinen zweiten „Polizeiruf 110“ für den Bayerischen Rundfunk vor. Auch er bemüht sich, nicht kulturpessimistisch zu klingen. Er verweist darauf, dass die Digitalisierung eine verbesserte Tonmischung ermöglicht, die das heutige Filmerlebnis körperlicher mache als noch in der analogen Ära. Er stellt allerdings fest, dass durch die Technisierung unserer Umwelt Erzählweisen konventioneller werden. Da vieles nicht mehr für eine Kamera abbildbar sei, wird seiner Ansicht nach mehr über Dialoge erklärt. „Was man ganz oft sieht: Zwei Kommissare stehen vor einem Monitor. Zu sehen ist der Rücken des Bildschirms, weil das, was er zeigt, ja stinklangweilig ist. Also wird dann über den Monitor hinweg auf die Darsteller gefilmt, die wahnsinnig viel erzählen müssen, um ihr Beeindrucktsein von der Technik darzustellen.“ Das Fernsehen kann unattraktive Bilder natürlich besser mit Dialogen kaschieren als das Kino mit seiner überwältigenden Leinwandgröße.
Ein besonderes Problem stellt die „Virtualisierung“ unserer Lebenswelt für den Dokumentarfilm dar, der ja nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann auf die dargestellte Realität. Pessimistisch äußert sich der Kameramann und Dokumentarfilmer Hajo Schomerus, der 2010 für seinen Film „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen“ mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet wurde: Er sei häufig ratlos beim Dreh. In der Praxis ärgere er sich ständig über das Problem, dass Monitore immer Fremdkörper im Bild bleiben. Entweder sie seien zu hell oder zu dunkel oder es komme zu Moiré-Effekten, Streifen oder Interferenzen. Und vor allem: „Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit, Monitore zu filmen: frontal. Bei einem Blatt Papier fallen mir dagegen gleich sechs, sieben verschiedene Stilmittel ein, die ich nutzen kann, um das Bild attraktiv zu machen.“
Schomerus lehrt aktuell an der Internationalen Filmschule Köln (ifs) Kameraarbeit. Ihm ist aufgefallen, dass in drei Abschlussfilmen des aktuellen Jahrgangs zunächst Telefonzellen eine wichtige Rolle spielen sollten – sie aber alle in den fertigen Filmen nicht mehr auftauchten. „Wahrscheinlich haben sie sich im Abgleich mit der Realität doch als Fremdkörper herausgestellt“. Das ist das Dilemma: In der Realität wirkt eine Telefonzelle – ein entscheidender Ort in Dutzenden von Filmklassikern – mittlerweile wie ein Relikt, im Film aber ist das Smartphone der Fremdkörper. Die Filmschüler haben sich für die Realität entschieden, im aktuellen Kino kann man eher die umgekehrte Tendenz beobachten. Häufig wird die Gegenwart analoger dargestellt, als sie ist.
Wer darauf achtet, findet regelmäßig Beispiele: Immer noch werden in Filmen gerne Schallplatten aufgelegt, auch wenn der Marktanteil von Vinyl – trotz des Booms der letzten Jahre – bei zwei Prozent liegt. Im Einzelfall mag das stimmig sein, aber die Gefahr besteht, dass die Glaubwürdigkeit strapaziert wird. Ein Beispiel: In der US-Komödie „The Overnight“ (2015) feiern zwei Paare eine spontane Pool-Party. Der neureiche Hausherr will die Stimmung mit Musik auflockern – und holt einen „Ghettoblaster“ aus den 1980er-Jahren heraus. Dass die „oberen Zehntausend“ ihre alten Kassettensammlungen aus Schülerzeiten aufbewahrt haben, um damit ihre Schwimmbäder zu beschallen, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass der Filmemacher das Objekt des klobigen Kassettenspielers einfach filmischer fand als eine drahtlos bediente, irgendwo im Inneren des Hauses versteckte Musikanlage.
Den Hausherrn spielt übrigens Jason Schwartzman, der in den letzten Jahren fast nur in Filmen besetzt wurde, die die digitale Ära mehr oder minder ausblenden. In „Listen Up Philip!“ (2014) spielt er einen Schriftsteller, der – ebenso wie sein gesamtes Umfeld – fast völlig in einer prädigitalen Welt hängengeblieben zu sein scheint. Und natürlich ist Schwartzman einer der Lieblingsschauspieler von Wes Anderson, dessen Filme in einem unserer Welt sehr ähnlichen Paralleluniversum angesiedelt sind, dessen Entwicklungsstand meist schwer zeitlich zu bestimmen ist: Smartphones oder Flatscreens sind hier jedenfalls noch unbekannt.
Die „Analogisierung“ der Welt macht nicht einmal vor Zukunftsvisionen halt – Science-Fiction-Filme erzählen bekanntlich immer mehr von der Gegenwart als der Zukunft. Die beiden von der deutschen Kritik dieses Jahr vielleicht am meisten gefeierten Filme des Genres verzichten völlig auf Darstellungen digitaler Technik. George Millers „Mad Max – Fury Road“ besteht fast ausschließlich aus einer Verfolgungsjagd mit Autos, die auch aus den 1970er-Jahren stammen könnten. Also aus einer Zeit, als die Funktionsweise eines Motors auch noch für Laien nachvollziehbar war. Jedenfalls haben die Gefährte des Films wenig gemein mit den aseptischen Computern auf vier Rädern, die heute in Autohäusern zu kaufen sind.
Noch extremer „retro“ gibt sich „Es ist schwer, ein Gott zu sein“ des 2014 verstorbenen russischen Regisseurs Alexej German. Nominell spielt er in der Zukunft. Die Handlung findet jedoch auf einem Planeten statt, der auf einer mittelalterlichen Entwicklungsstufe stehengeblieben ist, eine verdreckte, trostlose Welt, die an Gemälde von Hieronymus Bosch oder Pieter Breughel d.Ä. erinnert. Dass diese Filme solch überwältigende Kinoerfahrungen waren, hängt eng damit zusammen, dass sie sich geradezu schwelgerisch im Schlamm suhlen, Metall aufeinanderkrachen lassen und das Chaos feiern – nicht nur unter Ausblendung aller Computer, sondern auch mit möglichst wenigen im Computer errechneten Spezialeffekten.
Natürlich ducken sich nicht alle Filmemacher weg vor unserer durchdigitalisierten Gegenwart. Das Kino sucht schon seit Jahren nach Wegen, das Geschehen auf Bildschirmen und in Rechnern transparenter und visuell ansprechender darzustellen. Dabei entwickeln sich neue Konventionen. Das fängt bei kleinen Änderungen an: Textnachrichten, die eine Figur per Handy oder Computer verschickt, werden zum Beispiel neuerdings in Filmen häufig direkt – ähnlich wie Untertitel – eingeblendet, statt in einem Zwischenschnitt ein Display zu zeigen. In Filmgenres, die sich Freiheiten mit der Realität erlauben können, werden die Oberflächen der Technik meist ästhetisiert oder die Interaktion mit ihr physischer gestaltet. Im James-Bond-Abenteuer „Skyfall“ (2012) etwa sieht der von allen Gehäusen befreite Serverpark des Bösewichts Silva mehr aus wie eine Kunstinstallation als eine Ansammlung von Computern. Er verhält sich zu einem gewöhnlichen IT-Raum einer Firma wie das Centre Pompidou zu einem normalen Bürohochhaus.
In „Zero Theorem“ (2013), Terry Gilliams Steampunk-Version von Science-Fiction, sitzen die Computerarbeiter zwar vor relativ gewöhnlichen Bildschirmen, müssen aber aus unerfindlichen Gründen bei der Arbeit parallel in Pedale treten und bedienen dabei ihre Rechner mit einer Mischung aus Joystick und Bewegungscontroller, wie man sie von der Wii-Spielkonsole kennt. So wird Büroarbeit zum Sport, der den ganzen Körper fordert.
Wenn Filmemacher in modernen Blockbustern nicht umhinkommen, Bildschirme zu zeigen, sind diese oft überwältigend groß und stellen spektakuläre 3D-Animationen dar. Oder sie werden durch holografische Projektionen ersetzt, mit denen man interagiert, wie schon Tom Cruise in „Minority Report“ (2002). Andere Filmemacher suchen das Spektakel zusätzlich auf der Mikroebene. „Tron Legacy“ (2010), „Blackhat“ (2015) und „Who Am I“ (2015) bereiten mit (digital animierten) mikroskopischen Bildern von Platinen und Prozessoren metaphorische Übertragungen vor. In Parallelmontagen werden hier plötzlich aus Chips und Datenleitungen Hochhäuser und Straßen – der Computer als Großstadt in Miniaturversion.
In diesen drei Filmen spielen Hacker die Hauptrollen. Sie haben wenig gemein mit den pickligen Nerds und Geeks aus den High-School-Filmen vergangener Jahrzehnte. In „Blackhat“ wird der Protagonistvon Chris Hemsworth gespielt, der mit seiner beeindruckenden Physiognomie kurz zuvor noch den Donnergott Thor in der Verfilmung des gleichnamigen Marvel-Comics verkörpert hat. In „Tron Legacy“ wurde die Hauptrolle mit Garrett Hedlund besetzt, der vor seiner Schauspielkarriere Football gespielt und als Model gearbeitet hat. Der Verdacht liegt nahe, dass die physische Präsenz der Schauspieler hier kompensieren soll, dass sie eigentlich ganz unphysische Aufgaben zu bewältigen haben.
Filme über Hacker sind mittlerweile so etwas wie die moderne Version des Subgenres der Caper-Movies, in denen eine kriminelle Bande einen ausgeklügelten Raub ausführt. Was in Filmen wie „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ (1968) oder „Ocean’s Eleven“ (2001) die Gentlemen-Gauner waren, cool, intelligent und heimlich bewundert für ihre tollkühnen Aktionen, sind heute die genialen Programmierer, die sich jenseits der Gesetze bewegen – allerdings anders als ihre Vorgänger oft mit einer politischen Botschaft. Das zeigt besonders gut der deutsche Hackerfilm „Who Am I“ (2014), der zwar in vielerlei Hinsicht seinem US-Vorbild „Fight Club“ nacheifert, aber mit Ideenreichtum kinotaugliche Bilder für sein kinountaugliches Sujet findet. Besonders auffällig sind die Metaphern, die Regisseur und Drehbuchautor Baran bo Odar immer wieder verwendet. Im Darknet, also einem besonders geschützten Bereich des Internets, der auch viele Kriminelle anlockt, trifft Protagonist Benjamin auf den Hacker MRX. Dieser virtuelle Raum wird in Form eines düsteren U-Bahnwagons dargestellt, in dem alle Reisenden Masken tragen. Ein Trojaner, den Benjamin auf MRX’ Rechner schmuggelt, ist in dieser Welt ein echtes kleines Spielzeugpferd. Selbst Aktienkurse werden in „Who Am I“ überraschend bildhaft: Als sich Benjamin und seine Gruppe ins System der Frankfurter Börse hacken, lassen sie die Kurse nicht etwa einfach abstürzen, sondern die bekannte Anzeigentafel mit der DAX-Kurve ein „Fuck You“ in Form eines gestreckten Mittelfingers malen.
Der wichtigste erzählerische Kniff, um den Aktionen der Gruppe eine sichtbare Realität zu geben, strapaziert bisweilen die Glaubwürdigkeit der Handlung: Immer wieder müssen die Protagonisten in Gebäude einbrechen, um an geschützte Computersysteme zu kommen – da versagen offenbar ihre sonst so genialen Hackerfähigkeiten. So wird „Who Am I“ tatsächlich zum Caper Movie mit ganz konkreter Action.
Einen ganz anderen Weg der „Verkörperlichung“ geht Spike Jonze mit seinem nur leicht in die Zukunft verschobenen Drama „Her“ (2013), in dem ein innovatives Computerbetriebssystem eine Hauptrolle spielt. Er macht sich die physische Realität des Tons, von der Christian Petzold gesprochen hat, zu Nutze. Das Beziehungsdrama zwischen einem Autor und dem Betriebssystem verzichtet weitgehend auf originelle Visualisierungen, seien sie direkt oder metaphorisch. Stattdessen gibt Jonze – wie schon Stanley Kubrick in „2001“ – dem Computer eine Stimme (die von Scarlett Johansson) und scheinbar auch ein Gefühlsleben.
Auf einen Bildschirm guckt Hauptfigur Theodore fast nur bei der Arbeit, auch wenn er zuhause ein schickes Modell mit Holzrahmen hat – so wie die ganze Ausstattung des Films an den Design-Modernismus des mittleren 20. Jahrhundert erinnert. Stattdessen interagiert er mittels Ohrhörer und Mikrofon mit seiner virtuellen „Samantha“. Diese Liebe zwischen Mensch und Maschine kann natürlich nicht gut gehen. „Her“ verstört trotz seiner sanften Melancholie. Das Unbehagen, das die Virtualisierung unserer Umwelt auslöst, hat bisher kein Arthouse-Film treffender fiktionalisiert.
Das Genre, das gesellschaftliche und individuelle Ängste immer schon am offensten dargestellt hat, ist der Horrorfilm. In den letzten Jahren hat sich hier ein Subgenre entwickelt, das seinen Schrecken daraus entwickelt, dass wir Computern und deren mobilen kleinen Brüdern und Schwestern eine zentrale Rolle in unseren Leben eingeräumt haben, ohne deren Funktionsweise wirklich zu verstehen. Diese Filme meiden den Bildschirm nicht, im Gegenteil: Sie schauen dem Feind im wahrsten Sinne des Wortes direkt ins Auge.
„Desktop-Filme“ wird dieses neue Genre genannt, in dem ausschließlich das zu sehen ist, was sich auf dem Bildschirm eines Computers abspielt. In Filmen wie „The Den“ (2013), „Open Windows“ (2014), „Ratter“ (2015) und „Unknown User“ (2014) wird die reale Welt also gar nicht mehr direkt dargestellt, sondern nur noch deren audiovisuelle Vermittlung via Skype, Youtube, Instagram, Facebook, Chatroulette und anderen Web-Seiten und Internet-Plattformen.
Die radikalste Form hat „Unknown User“ gewählt. Hier sieht der Kinozuschauer in lediglich einer starren Einstellung und in Echtzeit knapp anderthalb Stunden das, was sich auf dem Monitor der Hauptfigur Blaire abspielt. Die Schülerin ist ausschließlich präsent durch das kleine Bild der Laptopkamera, das während ihrer Video-Telefonate auf ihrem Monitor zu sehen ist. Die Geschichte von „Unknown User“ basiert auf der Formel des Horrorfilmerfolgs „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ (1997): Eine Gruppe Jugendlicher hat den Tod eines Menschen zu verantworten und wird von einer oder einem Unbekannten – dem Opfer selbst? – ein Jahr später grausam zur Rechenschaft gezogen.
Blaire und ihre Freunde haben eine Freundin im Internet bloßgestellt, die sich daraufhin vor laufender Kamera umgebracht hat. Ein Jahr später scheint sich die Tote – oder ein Hacker, der die virtuelle Identität der Toten angenommen hat – in einen Videochat der Gruppe einzuschalten und die Freunde erst gegeneinander auszuspielen und dann nach und nach umzubringen. Neben dem Videotelefonat sieht und hört der Kinozuschauer nur, was sich sonst noch auf Blaires Rechner abspielt. Per Chat kommuniziert sie parallel mit ihrem Freund, recherchiert im Internet, hört Musik über einen Streaming-Dienst oder guckt sich Fotos auf Instagram an.
Die anderen Filme des Subgenres funktionieren ähnlich, auch wenn sie nicht alle in Echtzeit spielen und meist die Aufmerksamkeit des Zuschauers stärker lenken, etwa indem Ausschnitte des Bildschirms in Großaufnahme gezeigt werden. Immer gibt es aber einen „Eindringling“, der den Computer der Protagonisten kontrolliert, und immer wird die Geschichte mit Hilfe verschiedener geöffneter Fenster und Programme auf dem Monitor erzählt.
Das Genre der Desktop-Filme hat bislang vor allem Horrorfilme hervorgebracht, aber es gibt auch andere Beispiele. Der viel beachtete Kurzfilm „Noah“ (2013) der Kanadier Walter Woodman und Patrick Cederberg etwa ist so etwas wie eine (post-)romantische Komödie für die Social-Media-Generation und spielt ebenfalls ausschließlich auf einem Computer-„Schreibtisch“. Und der Amerikaner Kevin B. Lee hat mit „Transformers: The Premake“ (2014) eine brillante Analyse der modernen Blockbuster-Ökonomie in Form eines Desktop-Essayfilms vorgelegt.
Dass die Leinwand vielleicht in Zukunft öfter zum „Second Screen“ degradiert wird, hört sich für Cinephile wie eine Horrorvorstellung an. Das Verblüffende aber ist, wie mühelos die meisten der genannten Beispiele die Aufmerksamkeit fesseln. Alle diese Filme funktionieren intuitiv – zumindest für diejenigen, die online auch soziale Medien nutzen. Die multiplen Fenster, die beliebige Kombinationen von Bild, Text und Ton ermöglichen, sorgen für eine komplexe und schnelle Erzählweise, die in den Händen eines fähigen Regisseurs die bisher bekannten Split-Screen-Parallelmontagen aus Kinofilmen geradezu schwerfällig erscheinen lassen.
Interessant ist, dass die Desktop-Filme komplett aus der Subjektive erzählt werden – eine Erzählperspektive, die bislang im Kino als nur schwer durchzuhalten galt. Hier wird sie mit Hilfe des Computers als gewissermaßen verlängertem und vervielfältigtem Auge möglich. Der Zuschauer identifiziert sich dabei vielleicht weniger mit dem Protagonisten als allgemeiner mit der vertrauten Rolle des Computerbenutzers. Die Tücken der Technik – eingefrorene Skype-Chats, gekappte Verbindungen, langsame Ladezeiten und Virenprobleme – sorgen in den Desktop-Horrorfilmen nicht nur für Spannung, sondern ziehen auch in anderer Hinsicht den Zuschauer in die Handlung hinein: Wer fühlte sich dem Computer im Alltag nicht häufig ausgeliefert? „Jeder hat eine persönliche Beziehung zum Internet“, hat „Ratter“-Regisseur Brandon Kramer in einem Interview mit der Zeitschrift „Wired“ gesagt. „Die einzige Zeit, in der wir nicht online sind, ist unter der Dusche. Aber wir sind zugleich so wehrlos gegenüber so vielem im Internet, und das ist verdammt beängstigend. Das ist die klassische Angst vor dem Unbekannten.“
Desktop-Filme werden wohl dennoch ein Subgenre der Filmgeschichte bleiben. Zu begrenzt sind letztlich ihre erzählerischen und visuellen Möglichkeiten. Momentan reizt noch das Neue daran, doch ihre Halbwertzeit dürfte kurz sein: Nichts wird schneller unmodern und unfreiwillig komisch als die Benutzeroberflächen von Software. Regisseur Kramer gibt seinem eigenen Film eine Haltbarkeitsdauer von fünf Jahren. Dem Großteil des Kinos bleibt nur die Welt jenseits der Bildschirme, auch wenn auf ihnen ein immer größerer Teil unserer Leben stattfindet. (Dass unser Alltag nicht erst mit dem Personal Computer immer „unphysischer“ geworden ist, hat schon Kracauer erkannt, diese Entwicklung seit der Renaissance nachzuzeichnen wäre einen eigenen Text wert.)
Was also tun? „Ich glaube, dass das Kino – seit jeher eigentlich, aber vielleicht wird das heute sichtbarer – allegorisch erzählen muss“, schreibt Christoph Hochhäusler in seiner E-Mail. „Bestimmte Verkörperlichungen an sich körperloser Vorgänge sind nicht nur erlaubt, sondern nötig. Wir sind auf die Welt der Dinge und Erscheinungen angewiesen. Das Kino kann nur mit Körpern erzählen, auch wenn es etwas anderes meint. Nostalgisch zu werden meine ich aber gerade nicht. Das ist Gift, geht gegen den Geist des Kinos.“
Christian Petzold sieht es ähnlich. „Wenn es ‚retro‘ wird, dann finde ich das schrecklich, wenn Kino so ein nostalgisches Gefühl vermittelt. Es ist etwas verlorengegangen, man kann es ja nicht wiederholen. In einem Film, der nicht ‚retro‘ ist, kann man den Verlust von etwas zum Thema machen. Wenn ein Film immer noch mit Trenchcoat, Zigaretten und Musikboxen erzählt, dann ist irgendetwas nicht in Ordnung.“ Petzold stimmt Hochhäusler auch darin zu, dass die Lösung vor allem im allegorischen Erzählen liegt, also in einem Erzählen über erweiterte Metaphern, über bildliche Übertragungen. Doch wie könnte so etwas konkret aussehen? Die beschriebenen Versuche aus „Blackhat“ oder „Who Am I“ – der Computer wird zur Stadt, das Darknet zur U-Bahn – wirken schnell banal und tragen nicht weit. „Tron: Legacy“ geht wesentlich weiter, hat aber als Science-Fiction auch alle Freiheiten, die Welt nach den eigenen Bedürfnissen zu formen. Ähnliches gilt für „Her“.
Anders formuliert: Natürlich haben alle Regisseure und Genres weniger Probleme mit der Virtualisierung unserer Alltagswelt, die Film als einen „Rahmen“ betrachten, um eine bekannte Metapher aus der Filmtheorie zu verwenden. Das heißt, die den Filmemacher eher wie einen Maler sehen, der ein Bild komponiert, das mehr oder minder die Realität abbildet. Schwieriger wird es für diejenigen, die in der Folge von Siegfried Kracauer oder André Bazin das Kino eher als „Fenster zur Welt“ verstehen, die also die Kraft des Kinos gerade in dessen direktem Realitätsgehalt verorten (dass die filmische Repräsentation nie einfach nur abbildet, soll an dieser Stelle ebenso wenig diskutiert werden wie der Realitätsbegriff selbst). Das gilt besonders für den Dokumentarfilm sowie für alle filmischen Strömungen, die sich in der Nachfolge des Neorealismus sehen – aber auch für gewöhnliche Dramen und viele Komödienformen. Sie alle müssen sich – daran ändern letztlich auch die intelligentesten filmischen Ideen wenig – mit einer immer unfilmischer werdenden Lebenswelt arrangieren, wenn sie nicht „retro“ werden wollen. Denn unser „Fenster zur Welt“ ist heute das Fenster, das sich öffnet, wenn wir den Startknopf unseres Computers drücken.