Willy Zielke (unveröffentlichter Vortrag, Cinegraph-Kongress 1922)

Willy Zielke

 

Unter den vergessenen Namen der Filmgeschichte kommt ihm ein besonderer Platz zu. Eigentlich hat er nur einen großen Film gedreht, DAS STAHLTIER von 1935. Das Wort groß entspringt meiner Verlegenheit einen treffenden Begriff zu finden. Der Film ist avantgardistisch, expressiv, neusachlich, abstrakt, autonom, poetischer Realismus, Cinéma Pur, Konstruktivismus, Russenfilm, Dokufiktion im besten Sinn und vieles mehr. Man muss ihn schon gesehen haben.

Zielke, ein führender Fotograf der 1920er Jahre, grob der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen, kommt eher zufällig zu kleineren Filmarbeiten. Von der Reichsbahn erhält er 1934 den Auftrag einen Film zum 100jährigen Jubiläum der Eisenbahn in Deutschland (das war 1935) zu drehen. Er bekommt dafür 100.000.- Reichsmark und ist Autorenfilmer. Regie, Buch, Kamera, Montage Zielke. Der Titel ist Programm. Das Stahltier, die Lokomotive steht im Mittelpunkt und wird anthropomorph belebt.

Ein junger Ingenieur, gespielt von Aribert Mog, diskutiert mit Rangierarbeitern am Rangierbahnhof München Freimann. Der junge Zielke hatte in Taschkent zwei Jahre Eisenbahningenieur studiert und dieser junge Ingenieur ist ein Alter Ego des Regisseurs. Was am Reißbrett entworfen wird, wird auf der Schiene lebendig. Für die Rangierarbeiter hat eine Lok Lampen, für den Ingenieur sind es Augen. „Lampen oder Augen, es kommt darauf an, wie man sieht.“ Auch ein programmatischer Satz.

Dieser Film ist nicht kompatibel mit der Ästhetik des Faschismus. Aber auch nicht politisch heikel, nichts, was irgendwie groß anecken könnte. Der Ingenieur ist ein Romantiker, der im Spiegel seine belegte Zunge betrachtet. Und die Laiendarsteller sind echte Rangierarbeiter, ohne Exerzierspaten. Sie sind Profis mit schlechten Zähnen, Haken- oder Knollennasen und zerfetztem Arbeitsgewand. Außerdem trinken sie bei dieser hochgefährlichen Arbeit jede Menge Bier.

Am Ende der 1920er Jahre findet man in halbdokumentarischen und propagandistischen Filmen immer wieder nackte und halbnackte Männer, die sich gegenseitig mit Wasser bespritzen. Die Feststellung des homoerotischen Untertons ist nicht neu, aber hier braucht man nicht zu spekulieren, Zielkes Bisexualität ist bekannt.

Die inszenierten historischen Szenen sind ganz anders. Gerade hier heißt es oft, Zielke habe dafür kein Talent. Aber die auffällige Stilisierung kommt nicht von ungefähr. Die Leute agieren wie im Brechtschen Organon. Zielke benützt da eine inzwischen verpönte Weimarer Ästhetik. Wenn aufgebrachte Bauern auf Landvermesser stoßen, wäre es leicht, einen einfachen Überfall zu inszenieren. Aber Zielke lässt zwei Prinzipien aufeinandertreffen. Und die Dampflok von Waters ist hinter einem Zaun versteckt, der von Neugierigen belagert wird, eine epische Teichoskopie.

Objekte aus dem Deutschen Museum und dem Verkehrsmuseum in Nürnberg dürfen zeigen, was sie können. Hadleys ‚Puffing Billy‘, der Dampfwagen von Cugnot, Stevensons ‚Rocket‘ und andere. Die Inszenierungen Zielkes sind nicht nur episch, sondern auch ironisch. Während sich Fahrgäste der dritten Klasse um die Freifahrtplätze streiten, hält ein würdiger Herr eine pathetische Rede, die dann in Kanonendonner mündet. Und die ‚Puffing Billy‘ hat einen steifen Maschinisten, der so gar nicht zur Bergwerksatmosphäre passt. Einen kleinen filmhistorischen Witz erlaubt er sich beim Dampfwagen von Cugnot. Der Artillerieoffizier wird von Max Schreck gespielt und in Erinnerung an NOSFERATU ist alles klischeehaft expressionistisch wie im Lehrbuch.

Das Herzstück des Films ist aber die Belebung der toten Materie. Zielke arbeitet mit allen Tricks der Montage. Bauteile aus Stahl und Eisen explodieren in die feuerspuckende Arbeit am Hochofen. Puffer, die zusammenprallen, werden zu Bierkrügen. Fahrende Loks, verschmelzende Gleisanlagen und fliegende Masten. Attraktionen, Assoziationen, Parallelmontagen. Meist mobile Kamera, mit Überblendungen montiert. Die Loks geben Geräusche von sich wie Lebewesen. Und Peter Kreuders Musik zeigt, dass Kreuder auch atonal und verjazzt kann. Die Tonmontage ist hier genauso wichtig wie die Bildmontage.

Auf glitzernden Stahlbändern bewegen sich ölige Kolosse, die Dampf, Rauch und Staubwolken produzieren. Hier kann Zielke alle technischen Register der Kamera ziehen. Die Kamera fängt die technischen Bewegungen aus allen denkbaren Winkeln ein. Höhepunkt ist das subjektive Rad. Die Kamera ist an einem Rad befestigt und der Horizont fängt erst langsam, dann immer schneller an zu kreisen.

Die Probefahrt des Ingenieurs findet auf einer S 3/6 statt, die von Krauss-Maffei seit 1912 gebaut wird und die als die beste Dampflok aller Zeiten gilt. Die Personenzug-Variante hat 2m hohe Räder und erreicht 120 km/h. Also auch ohne Pufferküsser zu sein, muss man sich ein paar Zahlen ansehen. Leistung über 1700 PS, Gewicht 135 Tonnen. Wenn ein Großmeister der Bildgestaltung wie Zielke so etwas in Bewegung setzt, ergibt sich eine technische Symphonie, die man nur noch von zwei anderen Beispielen kennt. PACIFIC 231 von Mitry aus dem Jahr 1949 und NIGHT MAIL von Watt/Wright von 1936. Diese Dynamik hat man im Kino das erste Mal 1897 ausprobiert. Es war gewissermaßen an der Wiege des Kinos. L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT von den Brüdern Lumière.

Man möchte meinen, dass dieser Film Furore gemacht hat. Aber die Direktion der Reichsbahn wollte den Film nicht haben. Er entsprach so gar nicht dem, was man sich als Werbe- und Jubiläumsfilm erwartet hatte. Und dann kam auch noch das Verbot des Films mit der seltsamen Begründung, so wurde es kolportiert, dass er dem deutschen Ansehen schade, da die wichtigen Eisenbahnpioniere alles Engländer sind. Das klingt doch sehr fadenscheinig, wo es doch jedes Kind in jedem Sachbuch nachlesen kann.

Aus dieser mysteriösen Verbotssache ist inzwischen in der Filmwissenschaft eine Causa Zielke geworden. Zuletzt hat Nina Gladitz behauptet, Leni Riefenstahl habe ihre Finger im Spiel gehabt, Zielke als Konkurrenten ausgeschaltet und ihn im Irrenhaus geparkt, um ihn später bei Bedarf wieder rauszuholen. Aber dafür gibt es nur Mutmaßungen, die ganze Beweisführung erinnert sehr an Verschwörungstheorien. Richtig ist aber in jedem Fall, dass Zielke von ihr als einer der Kameramänner bei TAG DER FREIHEIT von 1936 eingesetzt wurde. Dann wurde er von ihr beauftragt, den Prolog des Olympiafilms von 1938 herzustellen. Zielke hat den viel gerühmten Prolog mit seiner typischen Überblendungstechnik gestaltet. Riefenstahl hat das dann umgestellt und damit den Bildfluss Zielkes zerstört. Es kam zum Streit. Zielke wurde dann auch noch um sein Honorar geprellt, was nichts Ungewöhnliches ist; das hat Riefenstahl gerne gemacht. Später hat sie sich auch noch Fotos von ihm zum Olympiathema angeeignet. Zielke erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde psychiatrisiert, was im Dritten Reich lebensgefährlich war. Er wurde zwar nicht ermordet, wurde aber sterilisiert. Riefenstahl holte ihn 1942 aus der Psychiatrie, damit er an ihrem Film TIEFLAND mitarbeitet. Die Schlussapotheose dürfte von Zielke sein.

Zielke, so weit man spekulieren darf, hatte im Dritten Reich auf das verkehrte Pferd gesetzt. Nach drei verlorenen Kurzfilmen von 1931/32 hat er bei Dreharbeiten Kontakt zum Erwerbslosenheim der Firma Maffei bekommen, wo ihm die Finanzierung eines Films über die Massenarbeitslosigkeit ermöglicht wurde. 1933 entsteht ARBEITSLOS – EIN SCHICKSAL VON MILLIONEN mit Beppo Brem, bekannt als bayerischer Heimatdarsteller, in der Rolle des Arbeitslosen, der „Warum“ fragt. Das ist das einzige Insert in dem Film. Im Unterschied zum STAHLTIER ist hier der Stilmix ziemlich chaotisch und auch unfreiwillig komisch. Der Film hat keinen Erfolg, aber interessiert den linken Flügel der NSDAP. Rudolf Hess setzt sich für eine propagandistische Überarbeitung mit Arbeitsdienst usw. ein. Das NS-Amt für Volkswohlfahrt übernimmt die Finanzierung, ein Projekt, das von SA-Kreisen geschätzt wird. Die Neufassung von 1934 heißt jetzt DIE WAHRHEIT. Eine öffentliche Vorführung lässt sich aber nicht nachweisen. Nach der Beseitigung von Röhm, Strasser und der SA-Spitze mitsamt dem ganzen linken Flügel, den die NSDAP mitgeschleppt hat, verschwindet der Film in der Versenkung. Nach dem Verbot des STAHLTIERS und dem Umschnitt des Prologs des Olympiafilms war damit Zielkes gesamtes Werk de facto verschwunden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kann sich Zielke zwar rehabilitieren, ist aber psychisch stark angeschlagen infolge der NS-Psychiatrie. Mit kleineren Aufträgen hält er sich als Kameramann über Wasser. Kollegen schildern ihn als schwierig. Kein Wunder. Es gelingen jedoch drei kleinere Filme von außerordentlicher Qualität. VERZAUBERTER NIEDERRHEIN von 1953 ist ein atmosphärisch dichter Film. Was Zielke schon früher oft machte, Bilder leicht vernebeln, ist hier Stilprinzip. Dies ist keine Dokumentation einer Region, sondern eine Seelenlandschaft. Ulrich Kurowski schreibt: „Flussläufe, Kanäle, Teiche, feucht glänzende Straßen, Wege und Felder. Gregorianisch klingen die Gesänge in schummrigen Kirchen und Klöstern.“ 1956 entsteht VERLORENE FREIHEIT. Ein blindes Mädchen erwirbt einen Vogel im Käfig. Als es ihn freilassen will, ist der Vogel bereits krank. Tot findet sie ihn später im Käfig auf. Zwischendrin träumt der Vogel vom Fliegen. Ein düsterer, sehr persönlicher Film. Zuletzt folgt ein Industriefilm. ALUMINIUM – PORTRÄT EINES METALLS von 1958. Zielke arbeitet das erste Mal mit Farbe und beginnt sofort zu experimentieren. Er arbeitet mit farbigem Licht, will dem Metall die Facetten seiner Erscheinungen entreißen. Grand Prix für den Technischen Film. Der junge Edgar Reitz ist sein Assistent. Er bewundert seine Kreativität, kämpft aber auch mit seinen Stimmungen. Alle drei Filme werden von Oskar Sala vertont, der die richtigen Töne für Zielkes Entfremdung von der Welt findet.

Thomas Brandlmeier

 

Thomas Brandlmeier

Thomas Brandlmeier, geb. 1950
Promovierter Chemiker, habilitierter Medienwissenschaftler, Betriebswirt
1973 bis 1980 Geschäftsführer des 'Münchner Filmzentrums'
1981 Strukturaufklärung des Phytochrom-Chromophors
Lehrt seit 1985 Medienwissenschaften an verschiedenen Hochschulen
Bis Ende 2015 Direktor der Hauptabt. Ausstellungsbetrieb des Deutschen Museums
Zahlreiche Publikationen als Autor und Herausgeber, u.a. zu Formen des Grotesken und Melodramatischen und zu Fragen von Technik und Ästhetik.
Wichtige Publikationen:
Filmkomiker. Die Errettung des Grotesken
Genre des Alptraums: Die amerikanischen Filme der 'Schwarzen Serie' 1941-1953
Fantômas. Beiträge zur Panik des 20. Jahrhunderts
Kameraautoren. Technik und Ästhetik
Manoel de Oliveira und das groteske Melodram
Film noir. Die Generalprobe der Postmoderne, München 2017
Douglas Sirk und das ironisierte Melodram, München 2022
Der französische Film, München 2023