Nachdem Sion Sono mit seinem Fukushima-Drama The Land of Hope ungewöhnlich ernste Töne anschlug, wandelte er in Why Don’t You Play in Hell? bereits wieder auf seinen angestammten blutig-abstrusen Filmpfaden, die eine wahre Fülle an Überraschungen und Skurrilitäten am Wegesrand bereithalten. Die Regiearbeiten des japanischen Enfant terrible sind tosende Knallbonbons voller exzentrisch-kinetischer Energie mit Einfällen am Rande des guten Geschmacks und auch in seinem ungestümen J-Rap-Musical Tokyo Tribe, bleibt Sono seinem berüchtigten Spiel mit irren Ideen und wilden Popkultur-Zitaten treu und inszeniert eine brachiale Hip-Hop-Oper mit Tokyo street credibility.
Sono führt in sein von 23 verschiedenen Tribes beherrschtes, dystopisches Tokyo mittels einer elaborierten fünfminütigen Plansequenz ein, die bereits klarstellt, auf was sich der Zuschauer in der bunt-schmutzigen Graffitiwelt, durch welche ein MC (Shota Sometani) als Erzähler führt, einzulassen hat: Schlägereinen und Übersexualisierung, aber auch die treibende Dynamik der Beats & Rhymes der Rap-Musik machen die irre Inszenierung des von Kampfgeschehen dominierten Hip-Hop-Musicals aus. Dabei wurden sowohl bekannte Vertreter des japanischen Sprechgesangs als auch Teilnehmern eines offenen YouTube-Castings für die zahlreichen Rap-Rollen gecastet, um den verschiedenen Tribes jeweils einen individuellen Rap-Stil verleihen zu können.
Wer ist hier potenter, stärker und skrupelloser? – Im sinnlosen Kampf der Gangs, dem extremen Sexismus und der überbordenden Brutalität zelebriert Tokyo Tribe beständig Männlichkeitsrituale und -beweise. So persifliert Sono mit den sich um Macht, Gewalt und Sex drehenden Songtexten sowie Handlungssträngen die sich immerzu wiederholenden tumben Machothemen des Rap-Business. Während die meisten Tribes brutal-kriegerische Tendenzen an den Tag legen, fällt die Saru-Gang aus dem Stadtteil Musashino mit ihrer Love und Peace-Attitüde extrem aus dem exzentrischen Tribe-Rahmen heraus. Eine weitere besondere Stellung kommt auch der mächtigen Bukuro Wu-Ronz-Gang zu, die vom sadistischen Buppa (Riki Takeuchi) befehligt wird, der gern junge Frauen verspeist und bei jeder Bewegung Münzgeräusche von sich gibt. Als dessen muskelbepackter Leutnant Mera (Ryuhei Suzuki) den allseits geachteten Anführer der Saru-Gruppe umbringt, verbünden sich die verfeindeten Tribes unter der Führung des jungen Kai (Young Dais), um gegen den tyrannischen Buppa, den Takeuchi mit einem extremem Grimassenrepertoire verkörpert, anzukommen. Und dann gibt es noch die kampfkunsterprobte Sunmi (Nana Seino), die sich als Tochter eines dubiosen Hohenpriesters in Tokyo versteckt hält und eher zufällig zwischen die Tribe-Fronten gerät.
Die Realverfilmung der erfolgreichen »Tokyo Tribe2«- Manga-Serie von Santa Inoue erinnert mit ihrer, in einem kunterbunten, höchst artifiziellen Neo-Tokyo spielenden Bandenkriegsstory an einen Mix aus West Side Story meets Akira mit einem Schuss A Clockwork Orange. Die zahlreichen Kampfsequenzen und extrem übertriebenen Figuren rufen hingegen Assoziationen zu japanischen Beat ’em up-Videospielserien á la »Street Fighter« oder »Dead or Alive« hervor. Über das wilde Zitatenpotpourri, das augenzwinkernd die Remix- und Sample-Kultur des Hip-Hop widerspiegelt, macht sich der Regisseur dann auch selbst lustig, wenn er im Kampfgetümmel eine Morgenstern schwingende Frau im Uma-Thurman-Jumpsuit von ihrem Gegner auf den Kill Bill-Einfluss ansprechen lässt und diese ihrem Widersacher dann nur kühl auf Bruce Lee und damit Game of Death verweist. Dass bei all den abstrusen Vorkommnissen die eigentliche Story ins Hintertreffen gerät und auch keine der zahlreichen Figuren etwas mehr Tiefe verliehen bekommt, nimmt der Regisseur unterdessen billigend in Kauf, setzt er doch auf einen sich im Zuge des Rap-Flows immer schneller drehenden Chaosreigen. Nicht Stringenz und Perfektion, sondern Exzess und Spektakel sind von Relevanz.
Irgendwo zwischen hohlem Trash und tollkühn-überdrehter Groteske erzählt Sono aber auch die Geschichte einer gegen korrupte Strukturen und willkürliche Machtausübung rebellierenden Jugend. Ein genauso hedonistisches Gesellschaftsbild Japans zeichnend wie sein Regiekollege Tetsuya Nakashima in seinem unbeugsamen Drama The World of Kanako, hofft Sono noch auf eine bessere Zukunft und einen möglichen Befreiungsschlag der jüngeren Generation. Denn während die japanische Jugend in Nakashimas letzten beiden Filmen als moralisch verroht gezeichnet wurde, hält Sono, wie schon in seinem postapokalyptisch anmutenden Werk Himizu, auch in seinem grell-vulgären Rap-Exzess Tokyo Tribe weiterhin an dem Glauben der Heilung der Gesellschaft durch die nachfolgende Generation fest.
-> Erschienen auf artechock.de: https://www.artechock.de/film/text/kritik/t/totrib.htm#k0