Für den unbekannten Hund

Das Regie-Duo Benjamin und Dominik Reding hat sich der Wandergesellen angenommen. Nach » Oi! Warning« drehten sie erneut mit »Für den unbekannten Hund« einen Außenseiter-Film, der eine ganz eigene Bildsprache entwickelt.  Von Jürgen Kiontke

 

 

Sie lieben starke Bilder, und sie lieben die Jugend. Dem Zufall überlassen sie gar nichts, jedes der 24 Bilder einer Filmsekunde muss perfekt sein. Diese Dinge brachten den Regie-Brüdern Benjamin und Dominik Reding schon die Kritik ein, sie würden sich in Leni-Riefenstahl-Optik gefallen. Doch Riefenstahls Helden sitzen selten im Jugendknast oder kotzen stockbesoffen in die Ecke. Zum Heavy-Metal-Konzert rennen sie auch nicht. Selbstzweifel sind ihnen fremd, und es ist auch nicht bekannt, dass sie an moralischen Verwerfungen verzweifeln.

Die Jugend, ihre Nischen und ihre Gefahren, Zweifel, Ängste und Glücksgefühle sind aber die Subjekte der Redings. Es gibt eine ganz eigene Reding-Optik, sogar ein eigenes Reding-Licht. Und ein Reding-Setting: in der Hauptrolle Jungschauspieler und Laien, in den Nebenrollen Profis.

Es gibt den Betrug an der Freundschaft, den schlechten Einfluss und die Provinz, den Ort, wo sich Jugend abspielt, mit ihren Bushaltestellen, Jugendzentren und leeren Fabrikhallen. Wo­bei »Provinz« nicht aufs Ländliche beschränkt ist: Denn auch in den Großstädten gibt es sehr provinzielle Orte, die sich nur deshalb vom Rest der Republik unterscheiden, weil sie größer aus­fallen – in der Reding-Stadt gibt es nur besonders viel Provinz.

Mittel- und Oberschicht lassen sich kaum jemals sehen; die sind hier auch nur so ein Randbereich.

In einem Reding-Film wühlen Nackte im Wald­schlamm; Mensch, Erde und Tiere sind das gleiche Material – was Wunder, dass sie derzeit an einer Produktion mit dem Titel »Der Golem und die zweifache Welt« arbeiten, die 2008 abgedreht werden soll. Denn der Mensch im Reding-Film ist roh, ein roher Eierkopf, und sein Musikgeschmack ist einfach. Er hört Motörhead, Smegma, Wolfmother und Glue­cifer. Er bewegt sich gern in der Skinhead- oder Gruftiszene. Es dominieren Körper, Materie und Kraft.

Reding-Figuren sprechen nie nur zu ihren Part­nern auf der Leinwand, sie sprechen immer auch fürs Publikum. So ensteht eine theatra­li­sche Atmosphäre. Der Reding-Film ist an­ge­wand­te Strasberg-Schule, aber eben nicht allein ­method acting, die Methode, mit der die Eindring­lichkeit einer schauspielerischen Darstellung durch die Identifikation des Schauspielers mit der Rolle gesteigert wird.

Sondern vielmehr: method directing. Die Regis­seure knien sich in den Stoff, leben damit, werden Teil von ihm. Das Ergebnis ist: Jede Szene ist ein Standbild, und kein Bild wird zurückgelassen. Manchmal kann diese Stilisierung des Bildes gestellt, grotesk und wichtigtuerisch wirken, die Bilder schießen zuweilen gern übers Ziel hinaus. Auch das Engagement (»Wir machen uns nichts vor: Die Diskussionen um diesen Film werden sicher wieder eisenhart«), mit dem die Redings ihre Filme politisch verstanden wissen wollen, befremdet – es sind Produkte ei­ner Kultur, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Aber dass es sich bei ihrer Arbeit um eine ei­gene künstlerische Typologie handelt, kann nie­mand ernsthaft bezweifeln.

Im Zentrum steht die Frage: Kann sich der Mensch entwickeln? Ja, sogar oder vor allem, wenn er richtig Mist gebaut hat. Wenn er zu seinen Taten steht, sie zugibt, daraus lernt, wenn er Lebensprüfungen annimmt und Gewalt und Drogen nicht mit noch mehr Gewalt und Drogen kompensiert. Es geht um Fragen des Glaubens. Sie sind moralisch und religiös – eine Religiosität, die in den Figuren selbst entsteht, sie im besten Fall wieder mit dem Rest der Welt verbindet, in Einklang bringt, wenn’s gut ausgeht.

Es gibt erst zwei gemeinsame Filme der Gebrüder Reding. Mit dem ersten, »Oi! Warning«, haben sie sich ihren Stil erarbeitet. Fünf Jahre haben die Zwillinge in dem Film gelebt. Wie sollten sie jetzt noch was nachlegen?

Ihr neuer Film »Für den unbekannten Hund« – zwei Jahre Drehbuch und Finanzierung, ein Jahr Storyboard und Casting, ein Jahr Drehen, Schnitt, Nachdreh, Postproduktion – ist vor allem eines: gnadenlos neben der Spur. Bloß nichts drehen, was schon da war, bloß nichts, was man schon mal gesehen hat – das Feld sollte völlig unbeackert sein.

Die unbekannten Hunde sind fahrende Gesellen; Typen, die zwar jeder schon einmal am Bahnhof herumstehen gesehen hat, von denen es aber insgesamt nur eine Hand voll gibt: Vielleicht 600 deutsche, österreichische und Schweizer Gesellen sind auf der Walz. Knapp 95 Prozent stammen aus den Baugewerken. Die Redings recherchierten Biografien und Daten. Fazit: eine gesellschaftliche Randerscheinung, weit draußen im Weltall, aber auch nicht randständiger als die inneren Planetenringe, in denen wir leben, nur mit anderen Regeln, Codizes, Gewohnheiten. Ohne Handy und E-Mail-Adresse.

Dramatisch muss es sein: Die Hauptfigur Bas­tian (Lukas Steltner) rutscht nach einem Mord in die Szene der Reisehandwerker. Jung und sau­doof, hat er einen Mann getötet; einen Penner, mit dem er nachts an einer Wismarer Tankstelle aneinandergeraten ist, weil dort kein Bier mehr rausgerückt wurde. Eine Tat, die an Albert Camus’ »Der Fremde« erinnert, Totschlag aus Täu­schung, Unbeherrschtheit, einfach so. Einmal das Messer quer über den Hals und dann alles in Schutt und Asche legen, um die Spuren zu verwischen. Ganz, ganz böse. Schnitt.

Bastian ist nun 20, hat den schönen Beruf des Betonbauers gelernt und kommt gerade aus dem Knast – Diebstahl für Freund Maik (Josef Heynert), der ihn erpresst. Maik, der mit an der Tanke war und den Mord mitangesehen hat.

Nun ist Bastian zu Hause bei der Freundin (Fiona Piekarek). Auch da sind Gitter vor dem Fenster wie im Knast – Erdgeschosswohnung. Dass es bei ihr so aussieht wie im Gefängnis, das mag das Leben sein, aber keine echte Auswahl.

– Hast du mich vermisst?

– Würg.

– Kotz’ nicht wieder neben die Schlüssel.

– Die Playstation hab’ ich vermisst.

– Warum hast du das bloß gemacht – den Bankautomaten gegenüber der Polizeiwache mit dem Vorschlaghammer knacken?

Ja, warum nur? Maik braucht Geld, dafür der Bruch. So geht’s nicht weiter. Bastian fährt zu Maiks Stammkneipe und hat wieder das Messer mit – Maik muss weg.

Aber es kommt anders. Im Klo knallt der besoffene Wandergeselle Samarit (Puja Behboud) in die Tür und haut Bastian das Messer in den Wanst. Auf einem Gesellentreffen im Heizkraftwerk wacht Bastian wieder auf. Die Reisekameraden haben den Dolch herausgezogen. Dann er­zählen sie ihm von der Wanderschaft. Im Wald schlafen und nie näher als 50 Kilometer an zu Hause ran.

Bastian will aufgenommen werden. Er hofft, mit der Tarnung als fahrender Geselle von der Bildfläche verschwinden zu können. Sie einigen sich auf eine Probezeit – für sechs Wochen soll Bastian getestet werden.

Besondern Gefallen findet der Proll aus Meck-Pomm nicht an der Freiheit, so ganz ohne Playstation. Das Handy wirft sein neuer Aufpasser, Samarit, in den See – »Wir sind jetzt alle einheimisch. Wir pennen im Tausend-Sterne-­Hotel!«

Es reicht nur zur ersten Baustelle, dann baut Bastian keinen Beton, sondern Scheiße. Durch einen Fehler wird der Kollege von einem Steinornament in die Tiefe gerissen. Das war keine Playstation.

Mit der Gemeinschaft ist es vorbei. Samarits Wanderkumpel Festus (Sascha Reimann) sagt es ihm. Bastian ist verzweifelt – ob er denn nie Fehler gemacht habe? Doch, und wie: Von seinem Freund Schmiege (Gunnar Melchers) habe er sich getrennt, erzählt er Bastian, als sie zusammen auf einem Flussfrachter sitzen. Wenig später habe er gehört, Schmiege sei tot. Ein Unfall, habe im Polizeibericht gestanden.

Und was er nicht sagt: Er baut sich Bastian ge­ra­de zu Schmiege um, weil er selbst ein schlech­tes Gewissen hat. Bastian: »Woran ist Schmiege gestorben? Boah, guck mal, n’ Speedboat mit 500 PS!«

Festus glaubt trotz der Flausen an den jungen Handwerker und gibt ihm eine zweite Chance. Diesmal nimmt Bastian die Wanderschaft ernster, auch wenn’s Ablenkung gibt. Sie landen bei zugeknallten Nazi-Metal-Fans, wo es heißt: Kanaken raus. Festus: »Seid ihr bescheuert? National ist keiner von uns. Wir sind in der Gewerkschaft IG BAU!«

Sie besuchen tomatenzüchtende Rockerbräute und Neo-Hippie-Mädchen:

– Ich will mit dir schlafen, Bastian. Mit dir und meinem Freund. Zu dritt.

– Ey, das machen doch nur Schwule, das mach ich in meinem ganzen Leben nicht.

Und macht’s doch. Wie so vieles. Der Typ ist in Bewegung gekommen. Nach und nach rückt er an Schmieges Stelle. Von Festus lernt er alles, auch Gesellenlieder. Eines kennt er schon, es ist eine Melodie, die er einen Penner an einer Tankstelle in Wismar hat pfeifen hören. Das Gehirn kommt langsam, aber stetig in Bewegung: Nun geht ihm auf, wen er umgebracht hat.

Die Redings wollten einen Film über Schuld und Wiedergutmachung drehen, Verantwortung und Vergebung. Ein Film übers Erwachsen­werden und das Erwachen aus dem Vorbewussten. Ihre Vorlage ist der reale Fall dreier Jugend­licher, die in Potzlow den 16jährigen sprech­behinderten Marinus stundenlang quälten und dann ermordeten. Mit ebensolcher Beiläufigkeit wie sie, glauben die Redings, tötet Bastian den Landstreicher.

Der Mord in Potzlow und zuletzt der an einem Ehepaar im mecklenburgischen Tessin seien Auslöser für die Filmgeschichte gewesen. Dabei sei die emotionale Kälte, das absolute Unbeteiligtsein der jungen Täter das eigentlich Erschreckende gewesen.

Sie hätten sich gefragt: Wie gehen diese jungen Mörder mit ihren Taten um? Was geschieht mit ihnen danach? Wo beginnt die Reue – und gibt es für sie vielleicht noch eine andere, tiefgreifendere Form der Sühne als die üblichen staat­lichen Instrumente Erziehungsheim, Jugend­knast und Psychiatrie?

Die Welt der Wandergesellen wiederum bezeichnen sie als »eines der letzten Geheimnisse, die unsere medial umfassend ausgeleuchtete Gesellschaft noch birgt« (womit es paradoxerweise mit dem Film vorbei sein könnte).

Das Ziel: einen Film zu drehen, der das Fremde nicht irgendwo, sondern hier und jetzt erzählt. Wie sieht es im Jugendknast aus? Wie lebt man ohne Schnickschnack? Wie verhält sich dumpfe Aggression zu freundschaftlichem Umgang in einer einzigen Person?

Um diese Inhalte zu transportieren, setzen die Regisseure ihre Stilistik auf vielen Gebieten ein: So hat jede Einstellung ihr eigenes Farbenspiel. Dies sei eine weitere »Ebene der optischen Verantwortung«. Licht und Farbe in allen Facetten bestimmen die Szenen. Bastians erster Aufenthalt im Freien findet in einem ausgefeilten Lichtspiel mit vielen Spiegelungen einer Party am Wasser statt. In einer anderen Szene transponieren sie den Konflikt per Optik aufs ge­sellschaftliche Gesamtniveau, dessen Umgangs­form das Wirtschaften ist. Festus und Schmiege haben für einen Bonzen gearbeitet, da wird der Film schwarzweiß; es sind bedrohliche Bilder von Tiefen und Höhen. Schwarzweiß ist bei den Redings der Blick der Distanz. Wenn es schwarz­weiß wird, sind die Figuren am weitesten von sich entfernt.

»Wir, die Zuschauer, sind keine Wandergesellen«, sagen die Filmemacher. »Deshalb keine Handkamera, keine falschen Subjektiven. Nähe zu den Figuren stellt sich durch ihre Darstellung, ihre Sprache, ihre Erlebnisse, ihre Veränderungen, ihre Glaubwürdigkeit her, nicht durch verwackelte Bilder.«

Gänzlich unverwackelt lassen sie Bastian an den Punkt kommen, wo er sich sozusagen in der Summe seiner Erfahrungen und der ländlichen Landschaft auflösen wird. Das war’s, die Puppenbühne wird zugeklappt. Aber der Fall, der wird nicht aufgelöst: Der Film wird keine Antwort geben. Das wäre unwahr. Wahr ist: Der Mör­der hat einen umgebracht und läuft weiter frei herum.

Wahrhaftigkeit und echte Nähe – das sind Dinge, die nah am Kitsch sind und einem Pub­likum, das postmoderne Zeichenhaftigkeit gewohnt ist, eigentlich kaum noch zu vermitteln sind. Aber dieser Versuch von Authentizität führt bei diesen beiden Regisseuren zu verblüffenden Ergebnissen. »Wir möchten wirklich etwas erlebt, durchlebt haben, bis wir einen neuen Film in Angriff nehmen«, sagt Benjamin Reding. »Wir wollen nah dran sein an dieser Welt, diesen Figuren, diesem Milieu, so dass das Gezeigte wahrhaftig wirkt. Das verstehen andere am Set manchmal nicht. Am Ende interessiert uns am meisten, ob wir glauben, was wir sehen.«

Die kleinen Szenen seien entscheidend, nicht die großen. Da seien sie nervöser »als bei der Sprengung einer Tankstelle«: »Jedes falsche Atmen, jeder falsche Blick in Einstellungen, die das Emotionale, das Pathetische berühren, kann dafür sorgen, dass das Publikum aussteigt. Weil es eine natürliche Angst hat vor den großen Ge­fühlen.«

Oder gar vor den falschen. Dem Illusions­kino. Geht es deshalb immer um die Jugend, weil in ihr Gefühle wahr oder falsch sein können, aber immer echt sind? Wir haben keine Angst und staunen – via method movie diving. Diese Leute werden noch in Hollywood drehen – nein: Sie werden sich wohl eher selbst eins erfinden.

 

Für den unbekannten Hund« (Deutschland 2006). Buch und Regie: Benjamin und Dominik Reding. Darsteller: Lukas Steltner, Zarah Löwenthal, Sascha Reimann. Start: 6. Dezember 2007

Aus: Jungle World 49/2007, www.jungle-world.com

Jürgen Kiontke

Jürgen Kiontke hat Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Er ist Filmkritiker u. a. für das Amnesty Journal, Junge World, Konkret, Mitbestimmung, Gegenblende und Futurzwei und arbeitet als Filmexperte für verschiedene Organisationen.
www.facebook.com/jurgen.kiontke/