Essay: Schnitte durch Zeit und (T)Raum

SCHNITTE DURCH ZEIT UND (T)RAUM

Diskontinuierliche Montage –
Von Intolerance bis Inception

(Von Kirsten Kieninger )

Durch Montage wird filmische Wirklichkeit erst konstruiert. Diese
kann dabei praktisch mit jedem Schnitt wieder durchbrochen
werden. Die "Regeln" dieses Spiels mit Raum, Zeit und Realität
haben sich im Laufe der Filmgeschichte verändert.
Schnitte, die ganze Filmwelten von einem Bild zum anderen auf
den Kopf stellen können, sind oft genauso unscheinbar wie jeder
beliebige andere Schnitt innerhalb einer Filmszene. Und doch:
nach diesem einen Schnitt ist plötzlich alles anders, als es vorher
schien. Die filmische Gegenwart entpuppt sich als Traum,
als Rückblende oder Vorgriff. Ein paar Schnitte später kann sich
das alles wieder ganz anders darstellen. Dieses narrative Spiel
mit Raum, Zeit und Realität, mit Traum und Wirklichkeit, zuletzt
in Inception für das große Publikum zelebriert, ist nicht neu, sondern
wird seit den Kindertagen des Kinos mithilfe der Montage
gespielt, weiterentwickelt und variiert.

INTOLERANCE

Vor über 80 Jahren feierten Kritiker Intolerance von D.W. Griffith
als „weltgrößten Film“ (Julian Johnson 1916 in der Zeitschrift
Photoplay). Der Film bringt vier zu verschiedenen historischen
Zeiten spielende Geschichten mittels Parallelmontage narrativ
zusammen, wobei „keine der vier Geschichten durchgängig erzählt“
wird. Die einzelnen Erzählstränge werden zunächst durch
Zwischentitel vorgestellt, im Verlauf des Films gibt es dann über
50 Übergänge, an denen zwischen den vier Geschichten mittels
zum Finale hin immer schnellerem Cross-Cutting hin und her gesprungen
wird. Johnson nannte Intolerance „das unglaublichste
Experiment im Geschichtenerzählen, das je unternommen
wurde“. Der heutige Kinogänger hat schon viel unglaublichere
gesehen. Die vier Geschichten in Intolerance sind zwar diskontinuierlich,
aber immer noch chronologisch linear montiert.
Diskontinuierliche Montage vermag viel mehr: Die Grenzen der
Manipulation von Zeit, Raum, Realität, Kausalität und Point of
View werden ständig neu definiert und wieder gesprengt. Doch
an die erzählerischen und formalen Freiheiten im Umgang mit
erzählter Gegenwart, Flashbacks, Erinnerungserzählungen, Flashforwards,
Träumen, Traumerzählungen, Halluzinationen und
virtueller Realität mussten sich Filmemacher und Publikum im
Wechselschritt erst einmal herantasten.

KOMPLEXITÄT DER MONTAGE

Schon an den ersten Schnittstellen der Filmgeschichte wird das
Zusammenführen verschiedener Realitäten erprobt: In einer Einstellung
ist ein Mann zu sehen, der mit einer attraktiven Frau isst
und sie gerade küssen will – Überblendung – derselbe Mann hat
im Bett liegend seine hässliche Frau in den Armen und schreckt
auf, dann bringt auch schon der Titel Rêve et Réalité (Frankreich
1901) die Sache auf den Punkt. Eine Traumsequenz gehorcht
damals wie heute oft der Definition einer “…Sequenzeinbettung,
in der durch eine intentionale Klammer das Eingebettete
an den Einbettungskontext rückgebunden ist” (Hans -J. Wulff).
Bildlich gesprochen heißt das, dass eine Traumsequenz z.B. erzählerisch
eingeleitet oder durch einen entsprechenden Schnitt
(auf den Träumenden) aufgefangen wird. So wird auch in Inception
z.B. jede neue Traumebene zuerst im Dialog angekündigt,
in Terry Gilliams 12 Monkeys, der in seiner Komplexität auch
Zeitreisen und Geisteskrankheit thematisiert, sind der Übersicht
zuliebe zumindest die Sequenzen, in denen Bruce Willis träumt,
immer ganz konservativ durch eine Nahaufnahme eindeutig auf
ihn rückgebunden.
Im surrealistischen Film der 20er Jahre spielen Träume eine große
Rolle, wobei vor allem die strukturelle Analogie von Traum und
Film von Interesse ist und Filme wie z.B. Un Chien Andalou der
ambivalenten Traumlogik gehorchen.
Das klassische Hollywood-Kino dagegen ist vorrangig am Geschichten-
Erzählen interessiert und die wichtigste Regel im Umgang
mit filmischer Realität ist dabei narrative Eindeutigkeit.
Mithilfe des Continuity-Stils (mit den präferierten "unsichtbaren"
Bewegungsschnitten innerhalb einer Szene) gibt es sich alle
Mühe, dass Schnitte im Bewusstsein des Betrachters verschwinden
und die filmische Wirklichkeit keine merkbaren Sprünge
bekommt. Einzelne Ausbrüche, die mittels Rückblenden oder
Traumsequenzen aus dem linearen Raum-Zeit Kontinuum gewagt
wurden, sind filmsprachlich (über-)deutlich markiert und so
für den Zuschauer leicht einzuordnen (Vgl. "Montage und Erinnerung
2" von Vincent Assmann in Schnitt Nr. 49). Das gilt auch für
Orson Welles Citizen Kane, der seine Geschichte multiperspektivisch
in subjektiven Rückblenden erzählt und damit narratives
Neuland betritt.
Im Autorenkino der 60er und 70er Jahre entstehen eine ganze
Reihe Filme, die auf inzwischen weiterentwickelte Seh- und Erwartungsgewohnheiten
des Kinopublikums setzen und diese
geradezu herausfordern. Filme wie L'année dernière à Marienbad,
Belle de Jour mischen die Darstellung realer Vorgänge mit
gleichberechtigt repräsentierten, oft subjektiven Vorstellungsund
Erinnerungsbildern oder Träumen. Es geht oft um subjektive
Konstruktionen von Wunschvorstellungen, Suggestion und Wirklichkeit,
wobei auf eine formale Markierung der Schnittstellen
verzichtet wird.
Seit den 90er Jahren mehren sich Filme, in denen die Realität
der Welt, in der sich die Protagonisten bewegen, erst als kohärent
etabliert wird und dann in Zweifel gezogen wird. Die diskontinuierliche
Montage hält auch als sinnstiftendes Element verstärkt
Einzug ins narrative Mainstream-Kino. Das Spiel mit ihr hat
heute viele schöne Namen: "Puzzle Movie", "Modular Narratives",
"Mind-Game-Film" oder auch "Mindfuck"-Film. Auf dem weiten
Feld diskontinuierlich montierter, non-linearer Filme lassen sich so
viele verschiedene Spielarten ausmachen, dass dies ein eigenes
Thema wäre: ob auktorial erzählt und dabei in verschiedenem
Grad verschachtelt auf der Zeitachse (wie z.B. Pulp Fiction die
Filme von Iñárritu) zur kompletten zeitlich umgekehrten Darstellung
der Ereignisse (Memento , Irréversible, 5×2), extrem diskontinuierliche
Achterbahnfahrten zwischen Realität und Traum, Erinnerung
und Halluzination wie Abre los Ojos oder Jacob's Ladder,
ob Vexierspiele mit der Wahrnehmung wie in The Others und 6th
Sense
, oder aus kranken Gehirnen heraus erzählte Filme, deren
subjektiver Erzählstandpunkt wirklich fucked up ist, wie z.B. Fight
Club
, A Beautiful Mind oder Shutter Island (wobei hier Das Cabinett
des Dr. Calligari
von 1920 ein frühes Vorbild ist) und viele
weitere modular montierte Spielarten mehr.

FAIR-PLAY DER NARRATION

Das Spiel mit filmischen Realitäten scheint heute nicht kompliziert
genug sein zu können. Die variable Unbekannte ist dabei
stets das Gesamtbild, das sich vor den Augen des Zuschauers
erst Einstellung für Einstellung zusammensetzt, und zwar unablässig
bis zum Ende des Films. Je nachdem, welche Fragmente
der Zuschauer wie montiert zur (Re-)konstruktion der Filmrealität
vorgeführt bekommt, fallen seine Hypothesen aus.
Doch diskontinuierlich montierte Filme, die dem Zuschauer bedeutende
Information vorenthalten oder doppeldeutig präsentieren,
spielen ein gefährliches Spiel, wenn sie sich nicht an eine
grundlegende Regel halten: Auch wenn der Zuschauer nicht
gleich die Zusammenhänge durchschaut, vertraut er doch darauf,
dass die Narration "fair" ist und am Ende alles Sinn machen
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wird, ansonsten fühlt er sich betrogen. Schon Hitchcock hat mit
seiner „lügenden“ Rückblende in Stage Fright, die der Film dem
Zuschauer zunächst als objektive Wahrheit verkauft, das Publikum
vor den Kopf gestoßen. Mit einem ähnlichen „Trick“ führt The
usual Suspects
den Zuschauer an der Nase herum, wenn in der
entscheidenden Szene ein subjektiver Point-of-view vorgegaukelt
wird, der aber letztendlich gar nicht existiert. Zum Fair-play
gehört eine deutliche Trennung des Subjektiven und Objektiven
(auktorialen), denn bei aller diskontinuierlicher Komplexität der
Narration muss es letztendlich einen erkennbaren Erzählstandpunkt
geben, auf den sich der Zuschauer verlassen kann (oder
von dem er eben gelernt hat, dass dieser nur bedingt vertrauenswürdig
ist) und von dem her der Film schlüssig aufgebaut ist.
Anders verhält sich dies allerdings bei Filmen, die auch auf der
formalen und damit auf der Metaebene mit Bedeutung spielen.
Hier kann die Narration viel freier mit Point-of-view und erzählerischem
Rahmen umgehen, ohne dass der Zuschauer sich am
Ende um eine einfach zu entschlüsselnde Geschichte betrogen
fühlt, denn um eine solche geht es z.B in den Filmen von David
Lynch gar nicht unbedingt.

INCEPTION

Christopher Nolan ist ein Musterschüler, der aus der Filmgeschichte
gelernt und vor allem mit Following, Memento und The
Prestige
seine eigenen Experimente mit verschachtelter Narration
und diskontinuierlicher Montage erfolgreich absolviert hat.
Inception ist bei aller inhaltlichen Komplexität der Geschichte
(oder eher: gerade deswegen) über weite Strecken erstaunlich
linear und konservativ erzählt und montiert. Christopher Nolan
baut sein solides Werk versiert auf filmsprachlichen Fundamenten
auf, die teilweise schon Jahrzehnte vorher gelegt wurden:
In der Original-Kopie von Griffiths Intolerance sind die vier verschiedenen
Erzählstränge unterschiedlich eingefärbt, um dem
Zuschauer die Orientierung zu erleichtern. Nolan hat sich für seine
vier Traumebenen auf diese altbewährte Orientierungshilfe
besonnen und in der Farbdramaturgie der einzelnen Szenenbilder
auch entsprechend eindeutig differenziert. Der Überblick
soll fürs große Publikum gewahrt bleiben. Denn Inception erzählt
vier Träume, die wie Russische Puppen ineinander verschachtelt
sind und in denen sich außerdem die Zeit von Ebene zu Ebene
verlangsamt. Während die Schnitte durch den Traumstapel
zeitlich linear sind, wird teilweise innerhalb einer Szene mit dem
Gegenschuss unvermittelt kurz in eine erinnerte Situation – von
der gerade die Rede ist – geschnitten. Der Film beginnt zwar
mit einem zeitlichen Vorgriff, bleibt dann aber auf der Zeitachse
kontinuierlich. Das Ganze geschieht narrativ von einer filmischen
Gegenwart aus, die allerdings genauso gut ein Traum sein könnte,
wie die letzte Einstellung suggeriert. Klug kalkuliert nutzt Nolan
mit Zeit und Traum die beiden großen Themen, die dem Medium
Film quasi immanent sind, als Spielbälle. Das Spiel ist wahrlich
nicht neu, es wurde nur selten es wurde nur selten so explizit und analytisch betrieben wie in Inception.

Eine gekürzte Fassung des Textes ist in "Schnitt – Das Filmmagazin", Nr.60 (Ausgabe 04/2010) erschienen

Kirsten Kieninger

Filmschnittmeisterin, Kommunikationswirtin und Filmkritikerin.

Während des Studiums der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin die Vorliebe für das bewegte Bild entdeckt.
Als Diplom Kommunikationswirtin dann beschlossen, das Medium Film wirklich zu begreifen und dahin zu gehen, wo Filme tatsächlich entstehen: in den Schneideraum.
Studium der Filmmontage an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Seit 2002 Diplom Schnittmeisterin.

Als freie Filmeditorin bevorzugt Schnitt von Dokumentarfilmen, als Autorin vor allem Filmkritiken und Essays, Festivalberichte und Interviews (u.a. für Rhein-Neckar-Zeitung, kino-zeit.de, Film&TV Kameramann).

Besonderes Interesse für die Konstruktion und Wahrnehmung von Wirklichkeit im Film und die Repräsentation von Realität im Dokumentarfilm - immer auch mit Blick auf die Kunst der Filmmontage.

Engagiert im Programmrat des Karstorkino Heidelberg.

FIPRESCI-Juries:
DOK Leipzig 2012
Thessaloniki Documentary Festival 2013
Flahertiana Documentary Festival Perm 2014
Thessaloniki Documentary Festival 2015

www.gegenschnitt.de
www.kirstenkieninger.de