AVATAR – www.EnricoBosten.com

Tuesday, January 12, 2010

AVATAR – Aufbruch nach Pandora

James
Cameron hat sich Zeit gelassen: 12 Jahre nach TITANIC, dem immernoch
erfolgreichsten Kassenschlager der Kinogeschichte, kommt er zurück um
das Kino, gemeinsam mit den besten Visual Effects-Schmieden der Welt,
zu revolutionieren. Mit AVATAR gelang erstmals der technische
Durchbruch in der Symbiose von realen Schauspielern und
fotorealistischer Computerwelt.

 

 

Inhaltlich ist AVATAR eine Art Öko-Science-Fiction-Antikriegsfilm mit
Kapitalismus-Kritik: Im Jahr 2154 wird der an den Rollstuhl gefesselte
Ex-Marine Jake Sully zu einem Einsatz auf Pandora rekrutiert, dem Mond
eines riesigen Gasplaneten. 14,4 Lichtjahre entfernt von der Erde wird
dort seit 30 Jahren ein wertvolles Erz abgebaut. Dessen größte
Vorkommen hat man nun unter dem Reservat der dort lebenden Ureinwohner,
der 3m großen, blauhäutigen Na'vi, ausgemacht. Jake
hat drei Monate Zeit, mit Hilfe eines Avatars, eines genetisch
reproduzierten Na'vi-Körpers, das Vertrauen der Ureinwohner zu
gewinnen, mit dem Ziel, sie zum Umzug zu überreden – notfalls mit
Waffengewalt. Doch
Jake, der zwar nicht mit dem Wolf, dafür aber mit dem Flugsaurier
tanzt, verliebt sich, ganz Old Shatterhand, in die Tochter des
Häuptlings und muss sich wie schon damals unser Lawrence von Arabien schließlich für eine der beiden Kulturen entscheiden.

 

Neytiri (Zoe Saldana)

 

Die Handlung ist zwar genreüblich überschaubar, die Indianer etwas
stereotyp, dennoch lehrt uns AVATAR wieder das kindliche Kino-Staunen,
das die Welt um uns vergessen macht: 163 Minuten waren nie so kurz.

AVATAR
ist state of the art, talk of the town, eine Pionierleistung, die das
Blockbuster-Kino des 21. Jahrhunderts grundlegend verändern wird. Zwar
wurden schon vorher reichlich Filme mit visuellen Effekten gedreht,
aber nie so fotorealistisch bis in die kleinste Augenbewegung wie hier.
Was sich mittlerweile als fester Begriff („uncanny valley", etwa „Tal
der lebenden Toten") für die seltsam künstlichen Animationen eines
Robert Zemeckies (Beowulf, Disneys Eine Weihnachtsgeschichte) etabliert
hat, hebelt Cameron nach über 8jähriger Entwicklungsarbeit mit gleich
drei Erfindungen aus: Gemeinsam mit Vince Price entwickelte er die
3D-Fusion-Kamera, das ausgereifteste 3D-Kamerasystem der Welt, mit dem
nun auch der legendäre TRON reanimiert wird.

 

Jake Sully (Sam Worthington)

 

Dann
verbesserte er die bei HERR DER RINGE für Gollum entwickelte
Performance-Capture-Technologie. Hierdurch kann ein verkabelter
Schauspieler quasi in ein digitales Kostüm schlüpfen, das nachträglich
auf ihn wie auf einen dreidimensionalen Green-Screen projiziert wird.
So können Gestalt und Körperbewegungen des Schauspielers als
Rohmaterial für eine digitale Figur verwendet werden. Schwachpunkt
waren hier Augenbewegungen und Gesichtsmimik. Hierzu entwickelte
man in 18 Monaten eine Art Footballhelm-Kamera, die aus nächster Nähe
jede einzelne Regung im Gesicht der Schauspieler einfängt und für die
digitale Nachbereitung verfügbar macht. Diese zusätzliche
motion-capture-Kamera hat den Vorteil, dass nun die „Gollum"-Cam zur
reinen Aufzeichnung von Körperbewegungen genutzt werden kann, und nicht
mehr so nahe bei den Schauspielern stehen muss. Dadurch erweitert sich
der reale, graue Raum, „Volume" genannt, in dem gefilmt wird, und der
den klassischen Green-Screen ersetzt. Folglich können nun auch große
Drahtseil-Stunts gedreht werden und ganze Luftschlachten – die
Schauspieler und realen Elemente des Films werden beweglicher. Und
drittens, und davon schwärmt er am Liebsten, entwickelte Cameron die
„Visual Cam", ein enorm Arbeitserleichterndes Werkzeug. Man muss sich
das so vorstellen: die Schauspieler, verkabelt und mit einer Art
Footballhelm, spielen wie auf einer leeren Theaterbühne im „Volume",
während Cameron, der neben Drehbuch und Regie auch die Kamera selbst in
die Hand nahm, die Aufnahmen macht. Und nun sieht er, dank seiner
„Visual Cam" nicht bloß verkabelte Schauspieler in einem grauen Raum,
sondern drei Meter große Na`vi und die digital eingespeiste Flora von
Pandora. Er sieht also nahezu das Endbild, bloss dass er es noch nach
Belieben nachträglich verändern kann. Eine 90cm-Kamerabewegung wird da
schnell zu einem viereinhalb Meter Kamerakran-Schwenk. Und
was die Größenordnung der verarbeiteten Datenmenge betrifft: während
das Versenken der TITANIC 1997 noch 2 Terabyte Speicher verlangte
(soviel wie heute ein haushaltsüblicher Computer samt externer
Festplatten zusammenbringt), benötigt die digitale Welt von AVATAR das
500fache an Speicherplatz. Da fragt man sich, wie viele Discs die
DVD-Box von Pandora enthalten wird.

 

AVATAR PREMIERE in Los Angeles am 16.12.2009 mit James Cameron und Suzy Amis

Fazit: Cameron
dürfte der einzige Autorenfilmer der Welt sein, der bei einem
Riesenbudget wie hier (dritt-teuerster Film aller Zeiten nach Spiderman
3 und Harry Potter 6) einen klaren Kopf behält. Das hat er schon bei
TITANIC bewiesen, bei THE ABYSS, TERMINATOR 1 und 2 und nicht zuletzt
bei ALIENS, der mit der Regel brach, dass Fortsetzungen grundsätzlich
schlechter sind als das Original. Übrigens: es ist ein Genuss, 23 Jahre
nach ALIENS Sigourney Weaver wieder im All zu sehen, untermalt von
James Horners grandioser Filmmusik – wenn auch ihr Charakter in AVATAR
mehr eine Mischung als Ellen Ripley und Dian Fossey ist.

 

AVATAR PREMIERE in Los Angeles am 16.12.2009 mit Zoë Saldana, Sigourney Weaver und Michelle Rodriguez

 

Der
Film hat bereits 4 Golden Globes-Nominierungen, mal sehen, wie viele er
absahnt und was die Oscars bringen werden. Eins ist klar: eine
Fortsetzung ist hier wahrscheinlicher als bei TITANIC, und ganz sicher
können es Steven Spielberg und Peter Jackson kaum erwarten, mit dem von
Cameron für AVATAR entwickelten neuen Spielzeug zu spielen. Wir dürfen
gespannt sein, was das neue Kinojahrzehnt bringt.

 

Enrico Bosten

Enrico Bosten

Von 2001-2010 wöchentliche Filmkritik im SWR Fernsehen und Radio (SWR 3, DASDING, Cinestar FM) sowie Printmedien (DEADLINE, Silenzium, u.a.). FIPRESCI-Juries Mannheim 2007, Berlinale-Forum 2009, Cairo Int. Filmfestival CIFF 2009.