Antalya 2009

DEM WOLF DIE SCHELLE UMHÄNGEN
Sensationelle Filme in ungewöhnlichen Zeiten
von Uli Gellermann

Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich. Orhan Pamuk

Wer war eigentlich Kanzler in der Bundesrepublik, als Anfang der 80er Jahre im Nato-Partner-Land Türkei tausendfach gefoltert wurde? Helmut Schmidt. Wer war deutscher Außenminister, als die Morde an Kurden, an Sozialisten aller Art und an solchen, die zufällig im Weg standen, in der Türkei zum Alltag gehörten? Hans-Dietrich Genscher. Hat der Verteidigungsminister Hans Apel die türkische Generalität auf den gemeinsamen NATO-Konferenzen verurteilt? Hat er gedroht, aus der NATO auszutreten, solange uniformierte Mörder am selben Tisch saßen wie er? Gibt es heute eine Untersuchungskommission, vor der sich die Genannten wegen Beihilfe zu Mord und Folter, zur Diktatur und Gewaltherrschaft verantworten müssen? Beihilfe durch Duldung, Wegsehen und natürlich staatlich sanktionierte Waffenlieferung an das Mörder-Regime.

Im "Gefängnis Nr. 9" litten sie in den 80er Jahren, Türken und Kurden, ein Deutscher unter ihnen, Frauen, Männer, Kinder. Wie viele andere im Land waren sie im Gefolge des Staatsstreiches inhaftiert worden. Manche waren Kämpfer für die Freiheit öffentlich ihre kurdische Muttersprache zu sprechen, andere, weil sie für ein Leben ohne Armut eingetreten waren und dafür, ihre Meinung sagen zu dürfen, gleich in welcher Sprache. Und solche sassen auch dort: Zufällige, wie der deutsche Reiseführer, der in Istanbul einer Gruppe von Touristen erklärt hatte, dass früher, noch unter den Sultanen, auch Armenier in der Türkei gelebt hatten. "Gefängnis Nr. 9" ist ein Dokumentarfilm, seine Zeugen sind so alt wie das Verbrechen der Militärdiktatur und auch die Informationen sind für machen nicht neu. Sensationell ist, dass der Film auf dem Antalya-Filmfestival gezeigt werden kann, der jährlichen Präsentation der türkischen Filmindustrie.

Nur wenige Stunden später die nächste Sensation: "Min Dit", der Film des Miraz Bezar, als Kurde in der Türkei geboren, als Junge in Bremen aufgewachsen, in Berlin studiert, der nun seinen kurdischen Film in der Öffentlichkeit der Türkei zeigen kann und sagt: "Die Spirale der Gewalt zwischen Türken und Kurden muss ein Ende haben." Es sind Kinder, die im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen, Kinder, deren Eltern vor ihren Augen erschossen wurden, weil sie zufällig das falsche Auto benutzt hatten, kontaminiert durch den Transport eines Illegalen. Es sind Schwester und Bruder, die nach dem Mord ein Überleben versuchen müssen, allein in einer Stadt, die im Ergebnis der Jahre währenden Kämpfe zwischen kurdischer Autonomie und türkischer Unterdrückung verarmt und verroht ist. Gemeinsam mit anderen Kindern schlagen sie sich durch, betteln und stehlen, und belegen mit großer Intensität, wie Gewalt Kriminalität zeugen kann.  Min Dit Bezars Film spielt in den 90ern. Paramilitärs – vom Militär gesteuert, von der Justiz gedeckt, von der Regierung zumindest geduldet – morden und foltern in der Osttürkei. Der bloße Verdacht für kurdische Rechte einzutreten, reicht für ein sofort vollstreckbares Todesurteil. Der damals demokratisch gewählte Ministerpräsident der Türkei heißt Turgut Özal, ein Zögling der Weltbank. Als das NATO-Mitglied vorzugsweise Kurden morden und foltern ließ, war Helmut Kohl deutscher Kanzler, Genscher immer noch Außenminister und Stoltenberg bestückte als Verteidigungsminister die NATO-Stäbe mit seinen Leuten. Wahrscheinlich war die Regierung Kohl zu sehr mit der Umwandlung der DDR in eine blühende Landschaft beschäftigt, um bei der türkischen Regierung der vielen Toten wegen nachzufragen. Diesmal sollen auch keine Deutschen dabei gewesen sein.

Ein ganzes Jahr lang hat ein Dokumentarfilm-Team einen jungen türkische Lehrer beobachtet, der Kinder in einem kurdischen Dorf unterrichten soll. Keines der Kinder spricht Türkisch, nur wenige Eltern beherrschen die Staatssprache. In unspektakulären aber ergreifend nahen Bildern macht der Film seine Zuschauer mit dem bitter armen kurdischen Dorf und seinem verzweifelten Lehrer bekannt. Der junge Mann begreift schnell, dass er den Kindern erst Türkisch beibringen muss, bevor er ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen nahebringen kann. Fast sanft erzählt der Film von einer staatlichen Brutalität, die den Kindern ihr Kurdisch austreiben soll, die keine Sekunde zögert, das Sprachmonopol auf Kosten von Bildung durchzusetzen. Und doch kann der Zuschauer im Lehrer Emre den neuen Türken erkennen: Einer der nicht überheblich von "Bergtürken" redet, wenn er Kurden meint, einer der sich auf das wirkliche Problem einlässt und sich mit erkennbarer Liebe den Kindern zuwendet, deren einziges sauberes Kleidungsstück die Schuluniform ist.

"Die Gewalt zwischen Türken und Kurden muss ein Ende haben", sagt Miraz Bezar, "deshalb sind meine Protagonisten Kinder, sie sind unschuldig, nicht in die Kämpfe verwickelt, ihr Schicksal kann auch die berühren, die den Hass leben." Wenn man dem Wolf eine Schelle umhängt, erzählt ein kurdisches Märchen, dann kann er kein Schaf mehr reissen und er muss auch nicht getötet werden. Diesem Märchen folgt Bezars Film, wenn er seine hinreissend agierenden Kinder den Mörder ihrer Eltern aufspüren lässt. Handzettel mit dem Foto des Paramilitärs werden in der Nachbarschaft verteilt, rote Pfeile auf dem Straßenpflaster markieren den Weg zu seinem Haus, vom Minarett der nahe gelegenen Moschee werden Name und Tat des Henkers ausgerufen, die Nachbarn, Türken wie Kurden, ächten ihn. Der Film spielt den Kindern einmal die Möglichkeit in die Hand, den beamteten Killer zu ermorden. Aber Bezar lässt sie den Weg des kurdischen Märchens gehen. Sie hängen ihm die öffentliche Schelle um.

Es scheint, dass die Schelle diesen oder jenen bereits aufgeweckt hat. Wer aus dem dunklen Kino in das gleissende Licht des Badeortes Antalya tritt, kann bei den Zeitungshändlern die Schlagzeilen lesen: Der türkische Ministerpräsident trifft sich mit dem armenischen bei einem Fußballspiel der beiden Nationalmannschaften, es soll eine gemeinsame Historiker-Kommisson zur Untersuchung der Massenmorde an den Armeniern geben. Inzwischen sendet ein 24-Stunden-TV-Programm in Kurdisch, eine kurdische Universität ist geplant. Eine aussergewöhnliche Zeit scheint anzubrechen. "Zum ersten mal bin ich stolz auf unser Land", sagt der Mann, der in der Türkei geboren und in Österreich aufgewachsen ist, als er aus dem Kino kommt, dessen Publikum dem Film "Min Dit" mehr Beifall als Pfiffe beurteilt hat. "Wir sind endlich in der Wahrheit angekommen." Manchmal spendet das Licht, das aus dem Kino kommt, mehr Erleuchtung als die Sonne. 

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