Alles steht Kopf

Sven von Redens Text zu Pete DoctersAlles steht Kopf ist die zweite von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Alles steht Kopf“ von Pete Docter

Sven von Reden 

 

Das Kino sei in besonderem Maße dazu befähigt, die »Errettung der physischen Realität« zu fördern schrieb Siegfried Kracauer in seinem Hauptwerk »Theorie des Films«. Für Krakauer war das nicht einfach eine Feststellung, sondern eine Forderung: Die Qualität eines Films bemaß sich für ihn gerade daran, wie gut er das „vorübergleitende materielle Leben“ festhält.

An diese physische Realität war der Animationsfilm nie gebunden – er kann problemlos Tiere sprechen lassen, Fabelwesen erfinden oder gleich ganze Fantasiewelten erschaffen. Konsequenterweise drehte Krakauer für den „Zeichentrickfilm“ seine Theorie um: Er sei dazu da „das Unwirkliche darzustellen, das, was nie geschieht“, fordert er in einer kurzen Passage, die er in der „Theorie des Films“ den Disney-Produktionen widmet.

So sehr Kracauer mit dem 3D-Hyperrealismus aktueller Animationsfilme gehadert hätte, so sehr entspricht der neue Pixar-Film „Alles steht Kopf“ auf der andren Seite seiner Forderung. Denn das seit 2006 zum Disney-Konzern gehörende Animationsstudio wagt sich mit seinem neuesten Werk weit ins filmisch „Unmögliche“. Es betritt ein Gebiet, das als genuin literarisch gilt: die Introspektion, die Welt der Gedanken, Erinnerungen und Emotionen.

Im Mittelpunkt steht die elfjährige Riley, ein aufgewecktes Mädchen, das gerne Eishockey spielt, ansonsten aber mit ihren Eltern ein gewöhnliches Mittelklasseleben führt. Riley ist glücklich, bis eines Tages der Umzugswagen vor der Tür steht. Ihr Vater hat einen neuen Job und die Familie ziehen vom Mittleren Westen der USA nach San Francisco. Gestresste Eltern, eine fremde Stadt, eine neue Schule – Riley mag sich mit ihrer veränderten Realität nicht anfreunden. Sie durchläuft die erste schwere Krise ihres Lebens. So weit, so wenig originell – Kracauer hätte von einem „bloßen Abklatsch der Realität“ gesprochen.

Das besondere ist: Erzählt wird die Geschichte zu weiten Teilen aus der Innenperspektive Rileys. „Alles steht Kopf“ spielt die meiste Zeit in ihrem Gehirn, genauer gesagt: in ihrem Bewusstsein. Zunächst wird es als eine Art Kommandozentrale dargestellt, die an die Brücke des Raumschiffs Enterprise erinnert. Dort kümmern sich fünf Emotionen um Rileys Seelenhaushalt: Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel, die personifiziert werden durch mehr oder minder menschenähnliche Figuren. Das Kommando hat die Freude, eine Art gute Fee ohne Flügel. Doch ihr entgleitet die Kontrolle immer mehr, je mehr Riley in der Realität schlechte Erfahrungen macht.

Die Grundidee ist nicht ganz neu: Noch recht simpel wurde sie in Disneys Anti-Nazi-Animationsfilm „Reason & Emotion“ von 1943 vorweggenommen, schon etwas komplexer hat die US-Fernsehserie „Vier mal Hermann“ Anfang der 90er Jahre sich an einem ähnlichen Konzept probiert. Pixar begnügt sich jedoch nicht damit, Gefühle zu Filmfiguren zu machen, sondern schickt Freude und Kummer auf eine rasante Reise quer durch Rileys Gehirn. Auf ihrem Weg kommen sie unter anderem in das Langzeitgedächtnis, nehmen eine Abkürzung durch das Abstraktionsvermögen, finden Rileys imaginären Freund, erfahren, wie Träume entstehen, und stürzen ab ins Vergessen.

„Roadmovies“ durch den menschlichen Körper hat es schon früher gegeben: In Richard Fleischers „Die Phantastische Reise“ (1966) und Joe Dantes „Die Reise ins Ich“ (1987) etwa bewegten sich verkleinerte Menschen in U-Booten durch die Blutbahnen, doch Pixar nutzt die größere Gestaltungsfreiheit des Animationsfilms mit Hilfe ihrer typisch anspielungsreichen Fantasie hier voll aus. Eine der schönsten Sequenzen ist der Gang durch das Abstraktionsvermögen, bei dem Freude, Kummer und Rileys imaginärer Freund Bing Bong – eine Mischung aus Katze, Elefant und Clown – verschiedene Stufen der Abstraktion durchlaufen: von kubistischer Vieldimensionalität bis hin zu simplen zweidimensionalen Grundformen. Hier werden nebenbei 50 Jahre Kunstgeschichte der Moderne – vom frühen Picasso der 1910er Jahre bis zur Minimal Art und Flatness-Theorie der 60er Jahre – auf wenige Minuten zusammengezurrt.

Solche gewagten Einfälle gab es seit längerer Zeit nicht mehr in Pixar-Filmen. Nach einigen Fortsetzungen („Toy Story 3“, „Cars 2“, „Die Monster Uni“) und eher konventionelleren Geschichten („Up“, „Merida“) knüpft „Alles steht Kopf“ an die Experimentierfreude von „Wall-E“ (2008) an. War die Herausforderung bei „Wall-E“ die erste Hälfte des Films komplett ohne Dialoge zu erzählen, ohne dabei ein Massenpublikum zu vergraulen, muss „Alles steht Kopf“ den Spagat bewältigen zwischen seiner abstrakten Ausgangsidee und einer bildlichen und erzählerischen Ausgestaltung, die alle Altersgruppen erreicht.

Besonders die quietschbunten Settings, die an Kinderspielzeuge wie Kugelbahnen oder Plastikförmchen erinnern, und die actionreiche Erzählweise dürften die jüngeren Zuschauer ansprechen. Auch die einfache Rahmenhandlung sollte ihnen keine Probleme bereiten. Um alle Ebenen der oben beschriebenen Sequenz im Abstraktionsvermögen zu verstehen, wäre allerdings ein abgeschlossenes Kunstgeschichtsstudium von Vorteil.

Pixar geht mit „Alles steht Kopf“ den umgekehrten Weg, den das aktuelle Action-Blockbusterkinos geht. In Filmen wie „Terminator: Genisys“ oder „Avengers: Age of Ultron“ werden die Geschichten immer komplizierter – nicht zuletzt, weil die einzelnen Filme in ein immer weniger überschaubares Geflecht von Prequels, Sequels und Reboots eingepasst werden müssen oder nur kleine Teile ganzer Paralleluniversen voller Superhelden abbilden. Auf der anderen Seite wird die Erzählweise in diesen Filmen immer simpler: Endlose Expositionen und erklärende Dialoge wechseln sich ab mit kaum in die Erzählung integrierten und ebenso endlosen Actionsequenzen – schließlich müssen die Zuschauer, die vielleicht längst der Geschichte nicht mehr wirklich folgen können, mit viel Spektakel bei Laune gehalten werden. Pixar bietet hier ein Gegenmodell an: Die Einstiegshürden sind gering, aber jeder Zuschauer egal welchen Alters- oder Wissensgrad wird etwas finden, das ihn auf seinem Level fordert.

Am Ende steht allerdings wie so oft bei Pixar ein Gefühl, das wohl nur die erwachsenen Zuschauer verstehen werden können: Eine nostalgische Melancholie im Angesicht des Endes einer Kindheit.