Dore O. – Ehrenpreis der deutschen Filmkritik 2022

Der Ehrenpreis der deutschen Filmkritik 2022 wurde am 30. September 2022 in Köln vergeben. Wir veröffentlichen hier die Laudationes von Rainer Komers und Masha Matzke im Wortlaut.

Laudatio von Rainer Komers

Dore O. erinnert sich an ihre Anfänge:

„1967 kam ich mit dem Werner Nekes nach Hamburg. Wir standen am Bahnhof, und da ging ein Zug nach Berlin und einer ging nach Hamburg, und da der nach Hamburg eher fuhr, sind wir in den nach Hamburg eingestiegen. Und so begann unsere Hamburger Zeit etwas zufällig in der Brüderstraße. Das war unsere erste gemeinsame Wohnung, nahe der Reeperbahn. Zu dem Zeitpunkt trug ich immer noch Hut. Das war für uns eine ziemlich extreme Situation, da das ja ein Ladenlokal war. Man trat sofort in unser Schlafzimmer von der Straße.“

So beginnt ein Interview, das Christian Bau mit Dore 1998 für seinen Film Die kritische Masse geführt hat. Die „kritische Masse“, das war ein Zusammenschluss von Hamburger Filmemachern und Filmemacherinnen, die unabhängig von Filmindustrie und Fernsehen und frei von Zensur radikale Filme drehen und vertreiben wollten. 1968 hatten sie die erste Hamburger Filmschau gemacht, um dann nach US-Vorbild die erste Filmcooperative Deutschlands zu gründen. Neben Dore und Werner waren unter anderen mit dabei: Hellmuth Costard, Helmut Herbst, Kurt Rosenthal, Bernd Upnmoor und Klaus Wyborny.

Dore fährt fort:

„Vom Bett aus haben wir die Coop-Geschäfte geleitet in den ersten Monaten, und es war deshalb extrem, weil in der Straße sieben Kneipen waren. Um zwölf, ein Uhr nachts fing das dann an mit „Brennend heißer Wüstensand“ von Freddy Quinn, bis dir die Ohren weh taten von diesen Schlagern, die halt damals total in waren auf der Reeperbahn. Und irgendwann saß ich auf der Treppe, weil ich nicht schlafen konnte, und da sah ich einen Mann, der hatte einen Schuh mit so einem Pfennigabsatz im Kopf stecken. Der ging langsam die Straße entlang an mir vorbei und hinter ihm eine Frau (mit dem anderen Schuh in der Hand), die tobte: Du hast meinen Schlüssel noch!“

Zwei Jahre vorher hatten sich Dore und Werner in Mülheim an der Ruhr kennengelernt. Zu der Zeit leitete Werner den Studentischen Filmclub Bonn, wo er amerikanische Underground-Filme zeigte und das Living Theatre mit Judith Malina und Julian Beck in den Uni-Hörsaal 1 einlud. Der Einfluss, den das New American Cinema von Kenneth Anger, Stan Brakhage, Maya Deren oder Jonas Mekas auf Dore und die Hamburger Filmemacher ausgeübt hat, ist kaum zu überschätzen. Dieses von Hollywood schon geografisch völlig unabhängige, von der bildenden Kunst, der Musik und Poesie hergeleitete und durchdrungene Kino erfand die europäische Filmavantgarde der 1920er Jahre im New York der späten 1950er und 1960er noch einmal völlig neu – und in Kodak Color.

 Noch einmal Dore:

„Das war natürlich für alle sehr aufregend und anregend, diese Art von Film zu sehen, und das hat auch Mut gemacht, unabhängig zu produzieren. Ich komme ja von der Malerei, und da war es halt viel einfacher, Sachen zu produzieren, man brauchte nicht sehr viel.“

Und Werner ergänzt:

„Man hat nicht gut gelebt, aber man hat frei gelebt.“

Dore O. in jüm-jüm (1967) – erste Regie-Arbeit gemeinsam mit Werner Nekes (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

jüm-jüm, 1967 entstanden, war ihr erster gemeinsamer Film. Vor einem von Dore gemalten Transparent, das ein überdimensioniertes Glied zeigt, ist eine Schaukel aufgehängt. Sie wird durch Dore, mal sitzend, mal liegend, in Bewegung gesetzt. Das Zeitkontinuum des Schaukelns wird durch Werners vier- und einbildmäßige Schnitte zerlegt, so wie im Kubismus eine Figur oder ein Objekt zerlegt wird. Dore meint, wegen seines kalkulierten Montage-Konzepts sei jüm-jüm ein Film von Werner.

Der Hamburger Autor und Schauspieler Dietrich Kuhlbrodt widerspricht:

„Zuerst war Dore O. da. Sie brachte in den Film etwas Persönliches, ein Teil ihres Selbst ein: ein Bild, das sie sich gemacht hatte. Und dann kam Werner Nekes. Er benutzte die sensible Dore O.-Vorstellung als Material seiner Gesetzmäßigkeiten.“

Der Weg war nun frei geworden für ihren ersten eigenen Film Alaska, entstanden 1968. „Ein Emigrationsfilm: Traum meiner selbst, Konsequenz aus dem Akt mit der Gesellschaft“  – so lautet die Logline, mit der Dore selbst ihren Film überschrieben hat. 

Die Anfangseinstellung zeigt das Untersuchungsgefängnis in Hamburg, gefolgt von einer hellen Fassadenecke, die auch als Zellenecke lesbar ist. Hauptschauplatz ist ein Badestrand am Meer. In einer ikonischen Doppelbelichtung schwebt Dore rot-bunt bekleidet mit ausgebreiteten Armen Ophelia-gleich in den Brandungswellen. In Alaska benutzt Dore schon einen Teil des filmkünstlerischen Arsenals ihrer späteren Filme wie Doppelbelichtung, Filter, Lochblende, Unschärfe, das Material rückwärts und auf dem Kopf abspielen.

Den Film und die Musik dazu hat sie selbst produziert. In ihrer Erinnerung an diesen Film sagt Dore:

„Man hat sich irgendwie ein paar hundert Mark besorgt, der Werner hatte die Kamera, und dann habe ich 68 diesen Film gemacht. Geschnitten habe ich ihn selbst, und ich habe auch selbst den Ton gemacht. Ich habe meine Geige genommen, den Film laufen lassen und dann live zu den Bildern Geige gespielt. Dazu habe ich noch einige Töne von Charles lves genommen, von der Platte, und die mit der Hand so gedreht, dass es so ein bisschen verzerrt war, dazu das permanente Geräusch von einem Föhn – das war der Filmton.“

Dore O. in Alaska (1968) – ihre erste Solo-Arbeit (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Nicolas Pedrero-Setzer schreibt anlässlich einer Werkschau von Dore in den Anthology Film Archives in New York im Juni 2022 über die westdeutsche Nachkriegsgeneration, der auch Dore angehörte:

„Deutschland in der Nachkriegszeit ist der Stoff, aus dem die Legenden für die eifernden Anhänger  von Hippie-Bewegung, Radikalismus und Avantgarde gemacht sind. Es ist nur angemessen, dass der Ort der Zerstörung der Welt in der Folgezeit die dramatischsten Rekonstruktionen und Neuformulierungen erlebte. Die Kinder des Faschismus waren häufig Freidenker. Amon Düül, die Melodiker mit den wirren Haaren aus München, verleugneten die Sprache beim Musikmachen. Die Baader-Meinhof-Gruppe hatte die gespaltene Nation mit ihrem militanten linken Aktivismus fest im Griff. Währenddessen stand Dore O. an der Spitze eines neuen, radikalen Kinos. In den späten 1960er Jahren gründete sie zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Werner Nekes die Hamburger Filmemacher-Kooperative und setzte mit ihren schwindelerregenden, beispiellosen Filmwerken neue Akzente.“

Und über die Tonspur von Alaska schreibt Pedrero-Setzer:

„Die begleitende Filmmusik deckt mit ein paar Streichern und einem Föhn gekonnt das ganze Spektrum des Krautrock ab und dokumentiert O.s Genie als Musikerin, die in der Lage ist, das Summen von Amon Düül in das Kreischen von Can zu verwandeln, indem sie eine unendlich wandelbare innere Logik zum Prinzip erhebt. O. war nicht nur Filmemacherin, sondern auch Malerin, Fotografin und Komponistin. Ihre Talente waren so umfangreich wie ihre Vorstellungskraft.“

In ihrem zweiten Film Lawale, entstanden 1969, kehrt Dore zurück an den Ort ihres Ursprungs, in ihr Elternhaus am Kassenberg. Kassenberg ist der Name einer Straße am Mülheimer Ruhr-Ufer.

Aus meinem Filmprotokoll zu diesem Film:

Ort des Geschehens – eine altmodische Villa mit englischem Fenster. Menschen am Sonntag, Familienaufstellung: Dore, die Mutter (blond gefärbt), zwei Schwestern, der Bruder. Einer fehlt: der Vater. Ein Ensemble statuarischer Figuren, in den Kulissen choreografiert wie bei Magritte – bevor es dann gemütlich wird beim gemeinsamen Frühstück im Bett mit Ei, der Zigarette danach. Viel Körperlichkeit, Berührung, Kuscheln, Händchen halten – und die Mutter spielt am Klavier zum Tanz auf. Entleertes Rollenspiel, wenn der Sohn, festlich gekleidet im schwarzen Anzug mit Silberkrawatte unter trostlosen Ahnenbildern den Rumpsteak-Braten aufschneidet. Ein Elternhaus der Nachkriegszeit, die Unfähigkeit zu trauern, Hort für Psychosen und Revolten. Das bürgerliche Ambiente mutiert zur Staffage.

Die Tonspur:

metallisches Kreischen, Kratzen, monoton, schmerzhaft bellend. Klavierseiten werden gestrichen, geschlagen, gezupft, John Cage-ähnlich. Melodische, singvogelähnliche Metallsaitenklänge, Tamburin. Zarte Töne, die wie Kinderstimmen, Glöckchen klingen, Katzenmiauen, bevor wieder das Kreischen beginnt, Muh-ähnliche Geräusche.

Fazit: Ein Strauß halluzinogener Dschungelgeräusche.

Dore O. mit ihrer Mutter in Lawale (1969) – Dore O.s zweite Solo-Arbeit (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Dietrich Kuhlbrodt über die Poetik von Lawale:

„Dore O. macht weder literarische noch formal strukturelle Filme. Sie drückt unbefangen das aus, was ihr ursprünglich und unmittelbar ist; danach wählt sie die entsprechenden filmischen Mittel. Ihre Filme lassen sich daher beim Ansehen nicht erledigen. Die Schönheit des Werks entfaltet sich während des Ansehens: in der Erfahrung (oder in der Erinnerung der Erfahrung), der Vielfalt der Möglichkeiten in einem Raum, den die Sprache noch nicht zivilisiert hat.“

In seinem Poesie-Begriff geht der nordirische Dichter Derek Mahon noch einen Schritt weiter:

„I think there is still a primitive beat in the human body and the human psyche. And poetry answers to that beat.“

Dore selbst sagt über Lawale:

„Die Erinnerung ist eine grausame Hoffnung ohne Erwachen.“

Weitere Loglines von Dore:

Kaldalon (1971): „Ein nicht-euklidisch, ambiguent, zerfetzt-versetzter Abenteuerfilm.“

Blonde Barbarei (1972): „Ein Film wider den Hospitalismus der Gesellschaft.“

Kaskara (1974): „Balance des Eingeschlossenseins im zerbrochenen Raum.“

Lawale (1969) – Psychose und Revolte (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

1974 wird Rona geboren, und 1977 zieht die Familie aus der Weltstadt Hamburg in die als Loft und Atelier umgebaute, stillgelegte elterliche Lederfabrik am Kassenberg in Mülheim.

Auf die Frage, ob diese Rückkehr in die Ruhrgebietsprovinz nicht ein merkwürdiger Rückzug sei, antwortet Dore:

„Irgendwann ist das auch völlig egal, wo man sitzt. Wir hatten Atlantik, und wir hatten Arbeitsräume hier – also im Grunde war es uns egal, wo wir gesessen haben. Letztlich sind wir wegen der Oma hierhingekommen, sonst hätte ich mit den Kindern das nicht geschafft. Die Rona war ja noch klein, und ich hab das gehasst, die auf Festivals mitzunehmen. Und überall waren Kleinkinder da. Ich fand das so schrecklich für die Kinder und dann auch für die Eltern. Dadurch, dass die Oma da war, war es möglich, dass ich Knokke habe machen können oder Amerika machen können. Und da wir hier die Arbeitsräume hatten, das war ideal für mich. Denn, ich hab ja eigentlich meine Filme alleine gemacht, das war ja nicht im Teamwork, das war’s ja nicht. Der Werner hatte immer sehr viel Leute, aber ich hab die eigentlich immer alleine gemacht.“

1979 wird Jonathan geboren. Werner war 35, Dore war 33 Jahre alt. Ihre bildnerische Arbeit hat sie parallel und kontinuierlich weiterverfolgt. So zum Beispiel 1990 Dore O. – Planet der Körper: Titel einer Ausstellung mit Foto-Grafiken. So nennt Dore ihre Polaroids, die sie während des Entwicklungsprozesses mechanisch und chemisch bearbeitet hat.

Planet der Körper (1990) – Foto-Grafik Dore O.  

2000 macht Dore ihren letzten Film: Eye-Step. Im Jahr davor fuhr ich nach Indien, um meinen Film NH2 über die Grand Trunk Road vorzubereiten. Dore wusste von meiner Reise und hatte mich gebeten, die Bolex-Kamera mitzunehmen und für sie Treppen in Old-Delhi und Varanasi aufzunehmen.

Erste Einstellung von Eye-Step nach dem Vorspann: eine Spiraltreppe von unten nach oben gefilmt. Das Bild dreht sich um die eigene Achse, immer schneller, zuletzt schwindelerregend schnell.

Im Mittelpunkt des Films steht ein Bismarckturm mit seiner Wendeltreppe. Solch eine himmelstrebende Treppe lässt an die Jakobsleiter denken, jene biblische Treppe, auf der die Engel auf und niedersteigen und an deren Spitze der Herrgott selbst erscheint. Die treppenförmigen Ghats in Varanasi führen jedoch nicht aufwärts, sondern abwärts in das für Hindus heilige Wasser des Ganges.

Letzte Einstellung: die Spiraltreppe vom Anfang, jetzt von oben nach unten gefilmt. Sie blickt uns am Ende an wie ein großes, leeres Auge.

Als Eva Orbanz 2001 für die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen in Berlin eine kommentierte Filmografie herausgibt, bittet sie Dore um einen Beitrag. Als Antwort erhält sie unter dem Datum vom 9. Juli einen Brief mit folgendem Inhalt:

„Liebe Eva, ich glaube, es wird nichts damit, einige kluge Sachen über meine Filme zu schreiben. Für mich war’s reines ‘Vergnügen‘, die Liebe zum Bild in Raum + Zeit, zu Tönen + Musik, ohne Absicht, Vorsatz – völlig wertfrei + überflüssig. Oft befiel mich wahnsinnige Angst, diese Filme überhaupt zu zeigen, und das hat sich bis heute kaum geändert. Wenn es geht, den Betrachter in etwas hinein zu bewegen (wie in eine auf bestimmte Art eingerichtete Wohnung) – eine lockere Heimstatt auf Zeit im Geiste –, das wäre schon gut.“

In einem Interview mit Marjorie Keller in der feministischen US-Zeitschrift Women & Film aus dem Jahr 1975 brachte Dore ihr Anliegen auf den Punkt:

“I don’t want to make modern films. One should only make personal films, otherwise they are of no interest to anyone else.”

Dore O. ca. 1990 (Foto © Dore O. privat)

Laudatio von Masha Matzke

Dore O. war nicht nur eine der renommiertesten Experimentalfilmemacherinnen, sondern auch Malerin, Fotografin und Komponistin. Ihre Talente und Virtuosität waren so weitreichend wie ihre Vorstellungskraft. Dore O.s Werk ist ein wahres Geschenk, dessen Bewahrung und Sichtbarmachung für mich sehr schnell zur obersten Priorität und zu einer wahren Herzensangelegenheit wurde. So schreibe ich diese Worte noch immer in großer Trauer, möchte jedoch hoffnungsvoll, aber auch appellierend mit einem kurzen Zitat der feministischen Künstlerin Lynn Hershman Leeson über das Vermächtnis experimenteller Kunst von Frauen beginnen: „A legacy is a gift to the future.”

Das Vermächtnis als Geschenk soll nicht über die Komplexität der Vorreiterrolle hinwegtäuschen. Dore O. war Pionierin, und wir müssen uns fragen, welche Herausforderungen und Kämpfe mit dieser Position einhergingen. 55 Jahre nach ihrem ersten und 22 Jahre nach ihrem letzten Film sollte dem bemerkenswerten Oeuvre von Dore O. endlich gebührend Rechnung getragen werden. Der Ehrenpreis der deutschen Filmkritik ist zweifellos ein bedeutender Schritt.

Die Arbeit ist jedoch noch nicht getan. Wie bereits Werner Nekes und Dore O. ab den 1970er Jahren wiederholt forderten: Es bedarf fortlaufender sowie kulturpolitisch verankerter Anstrengungen, diese allmählich verschwindende und bisher nur unzureichend dokumentierte Kultur des deutschen Avantgardefilms aufzuarbeiten und zu vermitteln. Heute Abend feiern und gedenken wir einer ihrer profiliertesten und dennoch eigenständigsten Stimmen – der großen Visionärin Dore O.

Beginnen möchte ich mit Dore O.s eigenen Worten zu ihrem sechsten Film Kaskara, der oft als erster Höhepunkt ihres Oeuvres rezipiert worden ist. Er wurde 1974 in Hamburg, New York und Årjäng (Schweden) gedreht, wo sie ab 1973 die Sommermonate verbrachte und wo ihre Asche im Juni 2022 verstreut wurde.

In der für sie typischen Manier, sowohl poetisch-enigmatisch als auch rigoros formalistisch, bezeichnete sie Kaskara als filmgewordene „Balance des Eingeschlossenseins im zerbrochenen Raum. Kulissenartiges Verschieben durch verschiedene Einstellungsachsen auf unterschiedlichen Ebenen der Mehrfachbelichtungen von Fassaden und Räumen mit Auftritten und Abgängen einer Person. Landschaften existieren nur als Ausblick durch Fenster und Türen. Bildeinheiten stehen in Opposition zu sich selbst, gleichen sich an oder lösen sich ineinander auf. Neben Bildpressungen, Brüchen von Räumen und Zeitverläufen stehen belassene Einstellungen. Anziehung, Verschmelzung und Abstoßung der Hälften des Filmbildes, mit dem Ziel einer sinnlichen Topologie. Ein Bild frisst das andere” – um, wie  Dore O. im Q&A beim Experimentalfilmfestival Knokke treffend mitteilte, „aus alten Formen neue Architekturen zu machen, wie Fenster, eine Tür, einen Mann”.

Kaskara (1974) – Hauptpreis des Experimentalfilmfestivals Knokke (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Kaskara hat Geschichte geschrieben: Als erste und einzige Frau und trotz der dominierenden Präsenz des nordamerikanischen Avantgardefilms gewann Dore O. 1974 die damals weltweit renommierteste Experimentalfilmauszeichnung, den Grand Prix des XPRMTL-Festivals in Knokke, Belgien. Von rund 75 im Wettbewerb gezeigten Filmen wurden nur elf ganz oder teilweise von Frauen produziert.

Jenseits des rein Persönlichen oder bloß Formalistischen scheint Dore O.s höchst enigmatische Poetik untrennbar mit der Erforschung filmischer Materialität verbunden. Was wir sehen, bot sich der Filmemacherin nicht einfach nur an, sondern ist das Resultat einer komplexen Kameraarbeit, ein handwerklicher Prozess, der suggestiver, eindringlicher wirkt als das, was die digitale Bildtechnik heute erreicht hat. Durch ihre besondere Aufmerksamkeit für das Medium Film finden bestimmte Seh- und Erfahrungsweisen der Welt in all ihrer flüchtigen Wandlungsfähigkeit ihren poetischen Ausdruck.

In einer traumähnlichen Verdichtung und seltsamen Aufhebung der Zeit erzeugen Dore O.s Filme eine gesteigerte Wahrnehmung zwischen Hypnose und Klarheit, innerer Versenkung und bewusster Wahrnehmung. Die Gegenüberstellung der alltäglichen Dinglichkeit der realen Außenwelt mit der rätselhaften Eigentümlichkeit unseres Innenlebens wird mit ebenso oppositionellen Kontrasten, materiell und immateriell, untrennbar miteinander verbunden, erforscht. Kontinuierlich lösen sich Gegensätzlichkeiten in einer rhythmischen Alternation auf: Offenheit/Geschlossenheit, Innen/Außen, mentaler/realer Raum, Abwesenheit/Präsenz. Eine mehrdeutige Filmerfahrung, die zwischen Polaritäten fortwährend zu oszillieren scheint.

Blonde Barbarei (1972) – im selben Jahr gezeigt auf der documenta 5 in Kassel (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Dieser mit eindringlicher Stärke und Präzision ausgearbeitete Dissens – das expressive, mitunter fast erzählerische Wirken von unauflösbaren Gegensätzen auf motivischer, narrativer und formaler Ebene – verweist auf den zentralen Stellenwert, welcher Dore O.s Filmen im nationalen und internationalen Kontinuum weiblicher Filmarbeit zukommt. Deren Errungenschaften stützen sich schließlich auf eine unauflösliche Konfrontation mit etablierten Repräsentationssystemen sowie auf beharrliche Eingriffe in tradierte Wahrnehmungsformen. Hier leistete Dore O. für die deutsche Filmgeschichte Pionierarbeit.

So kultivierte sie den Begriff des sogenannten „persönlichen“ Filmemachens in einer starken Überschneidung mit medienspezifischen Experimenten. Die stilistischen Anomalien sowie die mutige Konzentration auf die Bedeutung des Alltags in häuslichen Räumen verbinden Dore O.s Filme mit einer Reihe von internationalen, mehr oder weniger feministischen Filmemacherinnen der 1970er Jahre (etwa Chantal Akerman, Marjorie Keller, Yvonne Rainer).

Innerhalb Deutschlands legte sie mit ihrem Frühwerk den Grundstein für eine spätere Generation. In den 1980er Jahren wurde die deutsche Experimentalfilmkultur maßgeblich durch das Schaffen von Video- und Filmkünstlerinnen wiederbelebt, die wie Dore O. zuvor auf ihrer Suche nach neuen Modi von Subjektivität, Bewusstseinszuständen und experimentellen Erzählungen filmische Materialität und Medialität erforschten.

Dore O.s Vorreiterschaft kann als eine Antwort auf eine Frage interpretiert werden, die sich damals wie heute kaum jemand zu stellen scheint, nämlich: Wo ist das andere Kino geblieben? Zu lange war der deutsche Experimentalfilm in der Krise, um sich an die unmittelbaren Vorkämpfer der ersten Stunde zu erinnern und daran, wie er unter anderem von Frauen revitalisiert wurde.

Blindman’s Ball (1988) – Experimentalfilmpreis der Kurzfilmtage Oberhausen (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Kurzum, es gilt und ist im Grunde längst überfällig: die Aufarbeitung, die Neubetrachtung und Neubewertung des Schaffens von Dore O. Die defizitäre Forschungslage muss als direkte Konsequenz einer ebenso desolaten Materiallage und Vorführpraxis gewertet werden, schließlich war bis vor kurzem ihr gesamtes Frühwerk kaum mehr vorführbar. Dem lässt sich durch die bereits unternommene und im nächsten Jahr fortgesetzte Restaurierungsarbeit an der Deutschen Kinemathek entgegenwirken.

Vor allem aber muss Dore O.s Werk von den vergangenen Rezeptionskontexten befreit werden, die dazu führten, dass ihre Filme unterschätzt und übersehen wurden. Die kritische Auseinandersetzung mit Dore O.s Filmen war von Anfang an problematisch: Ihre Arbeit als Künstlerin und Frau, die in Deutschland im lyrischen Modus Filme produzierte, war geprägt von einem Kampf um Anerkennung.

Experimenalfilmkritik war nicht nur abwesend oder erst in der Entstehung begriffen (darauf ist das oftmals subjektive Ringen um Worte und ein Vokabular zurückzuführen), dem Avantgardefilm wurde vielerorts mit Ablehnung begegnet. Die Überzeugung, dass die Materialität des Films und eine persönliche Poetik obsolet und apolitisch seien, sowie die rigorose Spaltung in entweder ästhetische oder gesellschaftspolitische Positionen scheinen den deutschen Avantgardefilm nach einer radikalen Politisierung um 1968 verfolgt zu haben. So wurden auch Dore O.s Filme als altmodisch, romantisch, apolitisch, gesellschaftlich belanglos, trivial, narzisstisch, naiv und unreif bezeichnet, als ein Eskapismus in eine phantasmatische („weibliche“) Innerlichkeit.

„In den Rezensionen von Männern heißt es immer, die Filme von Dore O. seien schön“, schrieb Frieda Grafe zurecht misstrauisch – bis hin zu den wiederholten Analogien zu rein irrationalen Seherlebnissen, die sich jeglicher Analyse entzogen und damit eine substanzielle Auseinandersetzung mit ihren Filmen verhinderten.

Dore O. in Alaska (1968) – „Ein Emigrationsfilm: Traum meiner selbst“ (Dore O.) (Foto © Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Das kurzlebige Interesse am Experimentalfilm war eher dem Hunger nach Skandalen geschuldet, und die Zeit des wilden Experimentierens und eines utopischen Counter-Culture-Spirits  – spürbar in Dore O.s ersten Filmen jüm-jüm und Alaska – wurde durch hochgradig politisierte Debatten verdrängt. Schon bald wurden Spielfilme, Filme mit politischem Inhalt oder dokumentarische Formate bevorzugt. Angesichts dieser polemischen Konflikte verwundert es nicht, dass sich die von Dore O. und Werner Nekes 1968 mitbegründete Hamburger Filmmacher-Coop bereits 1974 auflöste und der Experimentalfilm ab den 1970er Jahren in eine „Ghettoisierung“ gezwungen wurde, wie Werner Nekes und Dore O. in einem Interview mit Dietrich Kuhlbrodt diagnostizierten.

Innerhalb der Experimentalfilmszene wurden Dore O.s Filme aufgrund ihrer Nähe zur lyrischen Filmpraxis der nordamerikanischen Avantgarde kritisiert. Ihre Filme sind aber natürlich keine reinen Abkömmlinge des New American Cinema. Inhaltlich tragen die Filme von Dore O. einen anderen, nämlich unbehaglichen Ton. Dore O.s visuelle Oberflächen sind in ihrer Reflexion historischer Kontexte kulturell codiert. Die Anspielung auf die lyrische Avantgarde wird in Unruhe versetzt. Es entsteht eine wechselnde Doppelbelichtung: gleichzeitige Assoziationen zu einer kulturellen Vergangenheit und Gegenwart des Filmschaffens.

So finden sich auch in Kaskara inmitten des trügerisch schönen Flächenballetts beunruhigende Einschnitte von urbanen Ruinen in Schwarz-Weiß. Wir sehen (mit einem vagen Gefühl des Wiedersehens) Bilder von mit Trümmern übersäten Landschaften. Was in vielen von Dore O.s Filmen zum Vorschein kommt, ist eine heraufbeschworene Stimmung, verkörpert im Auftauchen und Verschwinden geisterhafter Bilder. Ein jenseitiges, seltsam evokatives Gefühl –  von Leere, Abwesenheit, Einsamkeit, Verlust, Melancholie, Verletzlichkeit, Sehnsucht und einer kaum erinnerten Vergangenheit, deren lange Schatten die Oberfläche zu durchbrechen scheinen.

In Zeiten diskutierter und gelebter Massenamnesie kreierte Dore O. eine persönliche filmische Vision mit mehrdeutigen kulturellen Konnotationen. Eine Positionierung, die ebenso viel enthüllt wie verbirgt und dem Zuschauer viel Raum für individuelle Assoziationen und Erfahrungen einräumt: „Ich mache keine Missionsarbeit. Ich will nicht vermitteln; ich will Eigenerfahrung realisieren; jeder muss für sich selbst Sachen rausziehen und selbst lernen“, erklärte Dore O. 1981 in einem Interview mit Dietrich Kuhlbrodt. Werner Nekes fügte hinzu: „Dore O. ist viel radikaler als ich.”

Dore O. 2020 auf der Veranda ihres Hauses am Kassenberg in Mülheim/Ruhr (Foto © Daniel Kothenschulte)

Die Filme sollen für sich sprechen, fernab einer Positionierung zum Feminismus, zu der Frauenbewegung oder dem Strukturalismus der männlichen Vertreter der Avantgarde. Das zeugt von Stärke, Konsequenz und Souveränität einer Künstlerin sowie von einem Vertrauen in ihre eigene Arbeit, die sich außerhalb von kategorischen Bezeichnungen und unabhängig von exzessiven Selbstkommentierungen entfaltete.

Während einer diskurs- und theoriebesessenen Zeit, als jeder um sie herum, allen voran Werner Nekes, lauthals die eigenen Filme mit radikalen Manifesten, pädagogischen Pamphleten und ontologischen Theorien versah, ging Dore O. radikal ihren eigenen Weg und schuf ein wahrhaft faszinierendes Werk, das sich nicht auf ein einziges Anliegen festnageln, sich nicht eindeutig kategorisieren lässt. Das ist dessen große Tugend, aber auch einer der Gründe, warum es fast verschwand, es durch das Raster der filmgeschichtlichen Kanonisierung fiel. Zu figurativ, ausdrucksstark, erzählerisch für die strukturalistischen und materialistischen Positionen, zu abstrakt-formalistisch für feministische und politische Bewegungen.

Trotz dieser widrigen Rezeptions- und Produktionsumstände blieb Dore O. fast 40 Jahre lang ihrer Art des Filmemachens treu. Sie wurde damit nicht nur innerhalb der Hamburger Coop zu einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzigen Frau, die eigenständig Filme produzierte. Mehr noch: Seit Lotte Reinigers Schaffen in den 1920er Jahren war Dore O. die erste Frau, die sich in Deutschland derart konsequent und konsistent einer Avantgardefilmpraxis verschrieben hat.

Bis zuletzt verweigerte sie rigoros den Schritt ins Digitale. In einem unserer letzten aufgezeichneten Interviews im September 2021 sagte sie zu mir: „Mit Video wollte ich nie arbeiten, da rauschen die Bilder so durch, als hätte man sich keine Gedanken darüber gemacht, dass jedes Bild doch zählt.‟

Ehrenpreisverleihung v.l.n.r. Dunja Bialas, Rainer Komers, Peter Kremski, Jonathan Nekes, Rona Nekes, Frédéric Jaeger. Sonja Hofmann, Wilfried Reichart (Foto © Zi Li)