1976–1968 – Revolution und Freiheit

»Die Zukunft des Kinos« (Teil 3)

Patrick Holzapfels Text ist der dritte Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2016 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.

 

Wir werfen Filme statt Bomben

Für seine sechsteilige Essay-Reihe über die Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. Im dritten Teil geht es um den revolutionären Gestus vergangener Epochen und das notwendige Rückbesinnen auf die »Schlagkraft« des Kinos: auf Bewegung und Sinnlichkeit, auf ein Kino als Gedanke und Begehren.

Das Kino liebt den revolutionären Gestus. Noch immer geht eine beinahe magische Wirkung von eigentlich vergangenen Bildern aus – seien es Marlon Brando und James Dean in lässigen Posen oder François Truffaut, der sich mit seinem jugendlichen Gesicht gegen das Establishment des (französischen) Kinos richtet. Man denkt an Bewegungen, an Filmkollektive oder einsame Kämpfer für die gute Sache.

Diese Bilder unseres Filmgedächtnisses, egal ob vor oder hinter der Kamera, haben eine merkwürdige Gegenwärtigkeit. Als hätten sie immer noch Gültigkeit, obwohl sie wenig mit der Art und Weise zu tun haben, mit der das Kino heute arbeitet. Sind das die Bilder des letzten Aufbegehrens des Kinos? Sind sie historisch oder haben sie wirklich noch etwas mit unseren heutigen Begehren zu tun? Es ist klar, dass die Attraktivität des Kinos viel an seiner Fähigkeit hängt, sich gegen etwas zu stellen, gegen das, was man als Realität wahrnimmt. Sei es als Flucht davor, als Zauber oder als ganz bewusstes Aufzeigen einer anderen, möglichen Welt.

In schwierigen Zeiten ohne radikale Gesten

Es scheint besonders passend und vielsagend, dem Ansatz dieser Essay-Reihe zu folgen und in die Vergangenheit zu blicken, um etwas über die Zukunft des Kinos zu erfahren, wenn es um das revolutionäre Potenzial des Mediums geht. Denn irgendwie hat man seit längerer Zeit das Gefühl, dass sämtliche Ansätze zur Transformation von gesellschaftlichen, politischen oder kinematografischen Zuständen nostalgisch und melancholisch sind. Man klickt zurück, bedauert und fühlt eine enorme Ohnmacht. Alles was man tun will, scheint bereits gescheitert. Gleichzeitig gibt es eine enorme Identifikation mit dem, was vergangen zu sein scheint. Die Zeiten der Revolutionen im Kino sind mit der Desillusionierung gegenüber der Veränderung per se in den 1970er-Jahren zu einem Halt gekommen.

Hinzu kommt, dass wir in einer äußerst schwierigen Zeit leben, wenn es um radikale Gesten oder Statements geht. Das zeigte sich zum Beispiel 2006, als Jean-Marie Straub in seiner Abwesenheit in Venedig vor Ort ein Statement vortragen ließ, in dem er sich als »Terrorist« bezeichnete. Das löste einen Skandal aus, der zeigt, wie sehr das breite Kino nach einer Mitte sucht. Ein »Terrorist« bei Straub ist etwas anderes als ein »Terrorist« in der allgemeinen Wahrnehmung. Das Wort ist ähnlich wie »Radikalismus« negativ besetzt. Als Rainer Werner Fassbinder äußerte, dass er Filme mache statt Bomben zu werfen, entsprang dieser Gedanke einem anderen Geist. Diese Gesten mögen noch ihre Anhänger finden, ihre allgemeine Attraktivität jedoch ist verschwunden. Die 68er und Post-68er des Kinos sind heute marginale Figuren. Insbesondere im Mainstream ist das Kino dieser Tage sehr auf Demokratisierung gestimmt. Es gehört zum guten Ton, sämtliche politischen Korrektheiten einzuhalten, immer mehr scheint es eine Art Regelbuch für »gute und wertvolle« Kunst zu geben. Aus diesen Regelbüchern können durchaus ordentliche Filme entstehen, aber sicher kein »Madame Bovary« von Gustave Flaubert und kein »L’origine du monde« von Gustave Courbet. Die künstlerische Revolution hat immer etwas mit dem Bruch von Regeln zu tun.

Hoffen auf eine »kommende Aufklärung«

Auch ästhetisch treffen Angriffe auf Sehgewohnheiten heute meist auf Unverständnis. Betrachtet man zum Beispiel, welchen Fragen sich Angela Schanelec für ihren Film »Der traumhafte Weg« in Publikumsgesprächen oder Interviews stellen musste, dann spürt man ein enormes Misstrauen gegenüber filmischen Formen, die sich dem Konsens widersetzen. Insbesondere, wenn sie sich dabei nicht leicht in die Schublade einer Avantgarde schieben lassen. Es ist schwer, einen nötigen Enthusiasmus zu gewinnen, um sich gegen das Establishment zu stellen. Die Wut, mit der etwa ein Truffaut gegen das dominante französische Kino anschrieb, die Verbrüderung mit dem Unabhängigkeitsbestreben, die sich bei Filmemachern des Dritten Kinos wie Glauber Rocha oder Fernando Solanas finden lässt, oder der unbedingte Glaube an die Kino-Revolution, wie man ihn im sowjetischen Kino der 1920er-Jahre spüren konnte – all das scheint weit entfernt.

Auf der anderen Seite findet in diesen Tagen politischer Weltkrisen in den Köpfen der Menschen sehr wohl eine Politisierung statt, die durchaus mit jener zum Ende der 1960er-Jahre vergleichbar ist. Das gesteigerte politische Bewusstsein des Kinos, selbst wenn es sich noch sehr oberflächlich bewegt, existiert, und es gibt Anlass, auf »eine kommende Aufklärung« zu hoffen, wie Alexander Horwath anlässlich seiner letzten großen Schau als Direktor des Österreichischen Filmmuseums im Programmtext seine Auswahl an Filmen hoffnungsvoll einordnete. Vielleicht ist dieses Bestreben nach Aufklärung und Veränderung ein besserer Begriff für das, was hier mit Revolution beschrieben werden will.

Kino wird als (zu) selbstverständlich betrachtet

Die Frage ist nur, ob das Kino für eine Gesellschaft im Umbruch überhaupt noch eine Rolle spielen kann. Und will. Es ist klar, dass sich die Sehgewohnheiten stark verändert haben und dass die Bedeutung von Kinofilmen für die Auseinandersetzung mit der Realität geringer geworden ist. Oft wird auch auf die so genannten neuen Medien geblickt, die mit diesem Wandel in Verbindung stehen. Nur: Ist das Kino wirklich eine Form der Bildwerdung, die vergleichbar ist mit Kommunikationskanälen wie Facebook oder Netflix? Ist es nicht eher so, dass das Kino diese Entwicklungen in sich aufnehmen kann und sie dokumentiert, also mit ihnen statt gegen sie arbeitet?

Nicht nur in diese Fragen spürt man in den Bestrebungen hin zu einem widerständigen Kino oft entweder eine gewisse Naivität oder aber einen inneren Kampf, der sich schwertut, klare Aussagen zu treffen. Widerstand ist immer auch Zweifel. Vieles liegt daran, dass heute oft auf revolutionäre Impulse, Agitationen oder nur Vernunftbesinnungen aus den Filmen heraus gewartet wird, statt diese in der Existenz des Kinos selbst zu suchen. Das Kino wird als selbstverständlich betrachtet, und womöglich liegt in der Tatsache, dass dem nicht so ist, eine Chance.

Das Kino für sich selbst zu feiern, das ist lange verlernt worden. Doch gerade inmitten medialer Umbrüche würde sich darin ein Potenzial öffnen. Ist es nicht so, dass wir in diesen Bildern von Brando oder Truffaut auch immer den Gestus spüren: Das ist das Kino, das ist unsere Welt? Wie Danièle Huillet einmal in einem von Peter Nestler gefilmten Publikumsgespräch sagte: Die Waffe des Kinos ist die Zeit. Und welch eine wundervolle, stille Waffe das ist. In der Zeit, die man sich für einen Film nehmen kann, und die sich ein Film erlauben kann zu nehmen, liegt ein ungeheures Potenzial zur Veränderung. Ist es nicht etwa so, dass die Existenz eines der langen Filme von Lav Diaz wie »Ang Babaeng Humayo« (»The Woman Who Left«, der große Aufmerksamkeit durch den »Goldenen Löwen« beim Festival in Venedig erhielt) schon an sich ein Wunder und ein Angriff ist? Wenn im Widerständigen immer eine Idee des Durchbrechens bestimmter Muster liegt, dann verbirgt sich doch im Kino selbst ein Durchbrechen der Zeitwahrnehmung unseres Alltags. Damit muss nicht nur die extreme Entschleunigung oder Streckung von Zeit gemeint sein, es genügt vielmehr schon die kurze Zeit, die man sich nimmt, etwas anzuschauen. Vielleicht eine bestimmte Szene in einem Blockbuster oder ein ganzes Erleben in einem Flickerfilm. Die Zeit muss die Waffe der künftigen oder gegenwärtigen Kinorevolution sein. Es ist ein rebellischer Akt, etwas wirklich anzusehen, und es ist ein Luxus, in einer Welt, in der man dafür eigentlich keine Zeit bekommt. Das Kino kann Bilder von ihren Informationen befreien. Es kann sich erlauben, sich an nichts und niemanden zu richten.

»Absolutes Sehen« vs. »Relatives Sehen«

Die Zeit muss sichtbar werden. Der revolutionäre Filmemacher von heute setzt auf das, was Jacques Rancière in seiner Auseinandersetzung mit Béla Tarr das »absolute Sehen« im Gegensatz zum »relativen Sehen« genannt hat. Es geht darum, dem einzelnen Bild und Ton eine Präsenz zu geben, die sich nicht nur durch das folgende oder vorhergehende Bild motiviert, sondern in sich selbst eine sinnliche Wahrnehmung der Welt und/oder von Menschen trägt. Schon Jacques Rivette hatte in seinen Betrachtungen von Jean Renoir darüber nachgedacht. Was damals wie ein logischer Weg des Kinos anmutete, ist heute sein Widerstand gegen das dominante Kino, von dem man nur äußerst blind behaupten kann, dass es nicht im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und politischen Tendenzen steht. Wenn wir in einem »James Bond«-Film Krokodile sehen, wissen wir, dass diese Krokodile in der Sequenz noch eine Rolle spielen werden. Sehen wir aber Krokodile bei Filmemachern, die dem absoluten Sehen verpflichtet sind, kann es passieren, dass diese Krokodile keine narrative Funktion einnehmen. Wir sehen sie, weil sie ein Teil dieser Welt sind.

Der nicht versöhnte Filmemacher ist zudem jemand, der nicht behauptet, etwas zu wissen. Er schaut, weil das Kino selbst schaut. Es gibt heute wie vor 50 Jahren eine große Ansammlung von Filmemachern, die diesen Kriterien entsprechen. Es liegt eher in der vermittlerischen und schriftlichen Begegnung mit ihnen, ihr Schaffen als revolutionär und im Sinne von Brando und Truffaut »sexy« zu präsentieren. Eigentlich gibt es ständig neue Aufklärungen im Kino. Wichtig ist, dass sie realisiert und weitergetragen werden. Dabei sollte man nicht vergessen, dass zum revolutionären Filmemacher immer auch die Produktionsbedingungen gehören. Hierbei erweist sich insbesondere die Filmkritik als äußerst rückschrittlich in ihrer Betrachtung von Filmen. Sehr oft ignoriert sie die Hintergründe, in denen ein Film entstand. Nur wenn ein Jim Jarmusch mit »Paterson« einen Film macht, der den kleinen Poeten feiert, der in schöne Bücher schreibt – und das mit dem Geld von Amazon macht, jener Firma, die vorreitend ist, wenn es um das Aussterben des physischen Buchs geht –, dann ist das zumindest einen Kommentar wert. Dieses Bewusstsein ist ebenso wichtig wie jenes, das derzeit bezüglich Repräsentationsfragen herrscht.

Die bremsende kritische Grundhaltung der Kritik

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es unter jungen Menschen kein Interesse für das Kino gibt. Die Erfahrung des Kinos wurde nicht ersetzt und wird nicht ersetzt werden. Es gibt nur mehr Alternativen. Die technischen Neuerungen, die von der Generation der 1960er-Jahre umarmt und ins revolutionäre Kino integriert wurden, werden heute oft wie Feinde betrachtet. Dabei gibt es vor allem eine zu hohe Diskrepanz zwischen den Filmemachern und der Kritik. Filmemacher sind immer bereit, neue Technologien zu integrieren, aber es ist schwer, wenn es eine kritische Grundhaltung gibt, die dem entgegenhält, dass »das kein Kino« ist.

Statt sich melancholisch auf die Vergangenheit zu besinnen, täte das Kino gut daran, seine Einmaligkeit zu betonen und zu begründen. Nur dann kann es einen Dialog zwischen dem bisweilen haltlos übertriebenen Erneuerungswahn einer Branche und der viel zu prinzipiellen Skepsis der Filmkritik geben. Es geht um die an Zeit gekoppelte Erfahrbarmachung von Bewegung und Sinnlichkeit. Aus ihr entsteht vielleicht etwas, das tatsächlich verändern kann: ein Gedanke, ein Begehren. Es ist wichtig, dass man dabei die Kraft des Kinos nicht überschätzt. Das Kino hat nicht die Schlagkraft von Bomben, aber wenn eine Bombe unsere Erfahrung des Kinos verändern kann, dann kann das Kino auch in einem Bild unsere komplette Auffassung von Bomben verändern. Und sei es nur für die Dauer eines Films.

Zugegeben, man könnte der Versuchung erliegen, bereits im Formulieren eines Ausblicks auf Möglichkeiten der Zukunft einen pseudo-revolutionären Gestus zu verstehen. Es wirkt arg konstruiert und bemüht. Aber das liegt in der Natur der Sache. Lav Diaz: »Die endlose Suche nach Erlösung ist Segen und Fluch für die Menschen – man kann Menschen nicht auf eine Allgemeinheit, eine Gattung, ein gefürchtetes Klischee reduzieren –, weil die Menschen verstehen, dass es eine Notwendigkeit für Veränderung und Fortschritt gibt. Menschen verstehen, dass Rückwärtsgewandtheit und Rückfälle gefährlich sind. Und so kämpft man für ein Ideal. Dieser Kampf beinhaltet in sich ein fortwährendes Leiden, weshalb der Vision einer Erlösung beständig anhaftet, dass sie von diesem Leiden befreit. Man kann sagen, dass das menschliche Konzept von Humanismus Erlösung ist. Und das menschliche Konzept für Erlösung ist großer Humanismus. Entlang dieser These bewegt sich mein Kino. Kunst ist ein Teil dieses Kampfes. Ich versuche, ein Teil dieses Kampfes zu sein.«

Patrick Holzapfel

FILMDIENST 13/2017, 22.06.2017