Seefeuer

Sven von Redens Text zu „Seefeuer“ von Gianfranco Rosi ist die elfte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST (Nr. 18/2015) veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Seefeuer“

Sven von Reden

Der Begriff „Themenkino“ ist in den letzten Jahren zu einem der beliebtesten Schimpfworte der deutschen Filmkritik avanciert. Zu recht. Bezeichnet er doch – polemisch formuliert – ein Kino, das kein Kino ist. Genauer: Ein Kino, das nur Inhalt sein will und nicht Form. Ein Kino, das die gesellschaftliche oder politische Relevanz seines Themas mit seiner Relevanz als Kunstwerk gleichsetzt. Begünstigt wird solch ein Kino in Deutschland durch die Drehbuchfixiertheit der Filmförderungen, die Macht des Fernsehens – und auch durch die Auswahlpolitik von Deutschlands bedeutendstem Filmfestival: der Berlinale.

Umso schöner, dass dieses Jahr dort mit „Seefeuer“ des Italieners Gianfranco Rosi ein Film gewonnen hat, der trotz seines zeitpolitisch virulenten Themas dezidiert kein „Themenkino“ ist (das Gegenbeispiel war der zweite Dokumentarfilm im diesjährigen Wettbewerb: Alex Gibneys Cyberkriegs-Film „Zero Days“). Rosis Ansatz ist weit entfernt vom journalistischen Fernsehdokumentarismus, er ist ein Filmemacher, der nichtfiktionalen Film dezidiert für die große Leinwand „inszeniert“. Das kann bisweilen durchaus wörtlich genommen werden. Wenn etwa zu Beginn von „Seefeuer“ Protagonist Samuele mit einem Freund auf einem Motorroller über die Insel Lampedusa braust, steht die Kamera weit weg, um in der Totalen den ganzen Weg der beiden vom Horizont in den Vordergrund zu verfolgen. Natürlich ist das kein Bild, das aus der einfachen Beobachtung entstanden ist – und es tut auch nicht so. Es wurde inszeniert aus ästhetischen und symbolischen Gründen: weil es einen spektakulären Überblick über die raue, verlassene Landschaft der Insel gibt und weil es zugleich etwas erzählt über Samueles Einsamkeit.

Rosi hat ein Jahr auf der Insel 120 Meilen südlich von Sizilien verbracht, die zu einem Symbol geworden ist, für die Herausforderungen denen Europa ausgesetzt ist durch die Fluchtbewegung von Menschen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Eine Texttafel zu Beginn informiert darüber, dass in den letzten zwanzig Jahren 400.000 Menschen die gefährliche Überfahrt von Nordafrika gewagt haben, ungefähr 15.000 starben dabei.

Rettungsaktionen auf hoher See zeigt Rosi nur zu Anfang und am Ende seines Films – am Ende mit drastischen Bildern von dutzenden Toten im Bauch eines Schiffs. Dazwischen folgt er vor allem dem zwölfjährigen Samuele in seinem Alltag und kontrastiert dies mit Aufnahmen aus dem Erstaufnahmelager auf der Insel. Auf Interviews verzichtet der Regisseur. Ausnahme sind die Schilderungen eines Arztes, der anhand von Fotos über den schockierenden gesundheitlichen Zustand vieler Flüchtender bei ihrer Ankunft berichtet. In der Figur des engagierten Mediziners, der trotz seines grausigen Alltagsgeschäfts seine Empathiefähigkeit nicht verloren hat, kann man wohl so etwas wie den Stellvertreter des immer unsichtbar und unhörbar bleibenden Filmemachers sehen.

Am humanistischen Anliegen Rosis besteht kein Zweifel, er hat es in Interviews zum Film auch immer wieder betont. Dennoch ist „Seefeuer“ ein zwiespältiger Film, zunächst einmal dadurch, dass der Filmemacher vor allem Samuele in den Vordergrund stellt; es gibt keinen Flüchtenden, dem auch nur annähernd so viel Leinwandzeit gewidmet wird. Die Afrikaner und Syrer bleiben anonym, sie sind immer nur in größeren Gruppen zu sehen und fast immer im Halbdunkel. So bekommen sie etwas Bedrohliches, besonders wenn am Anfang eine große Zahl junger Männer gen Mekka geneigt beten. Der einzige Flüchtende, der so etwas wie eine Subjektivität bekommt, rappt und singt in einem Klagelied über die Flucht seiner Gruppe durch die Sahara, über das Gefängnis in Libyen und die Fahrt über das Mittelmeer. Er erzählt von Durst, Hunger, Folter, Ertrinken – eine bewegende Szene, aber ebenso verstörend, wenn der junge Mann immer wieder mit agitierter, anklagender Stimme wiederholt, dass sie ihre „Pisse“ trinken mussten, um nicht zu verdursten.

Im Kontrast dazu steht Samuele, der mit seinem Vater, einem Fischer, und seiner Großmutter in einem bescheidenen Häuschen ein ruhiges Leben lebt. Mit selbstgebastelter Zwille zieht er allein oder mit seinem scheinbar einzigen Freund über die Insel und gibt sich martialisch. Aber eigentlich ist er ein liebenswerter, ängstlicher Junge, der sofort seekrank wird, wenn er mit seinem Vater aufs Meer fährt und der wegen eines „faulen Auges“ eine Augenklappe tragen muss. Seine Familie erfüllt weitgehend die üblichen Italienklischees – inklusive Heiligenfiguren im Schlafzimmer und Spaghetti zum Mittagessen. Mit den Flüchtenden auf der Insel kommen Samuele und seine Familie scheinbar nicht in Kontakt – oder nur über die Radionachrichten, die mal wieder von einem gekenterten Boot und Toten berichten.

Rosi hat seinen Fokus auf Samuele in Interviews damit erklärt, dass die Aufnahmestelle für Flüchtende wegen Renovierungsarbeiten monatelang geschlossen war, als er auf der Insel drehte. Außerdem seien die Flüchtenden nur wenige Tage auf der Lampedusa, bevor sie auf das italienische Festland gebracht würden. Daher habe er nicht die Möglichkeit gehabt, wirklichen Kontakt aufzubauen und Samuele etwa einen afrikanischen Jungen gegenüberzustellen.

Dennoch hätte er die Flüchtenden anders zeigen können. Oftmals wirken sie im Dunkeln, eingehüllt in goldene Rettungsdecken, wie Aliens, die in Massen in einem entvölkerten „alten“ Europa gelandet sind, das dem Untergang geweiht ist. Dieser Eindruck ergibt sich besonders, wenn man „Seefeuer“ vergleicht mit Jakob Brossmanns Dokumentarfilm „Lampedusa im Winter“, der ein völlig anderes Bild der Insel zeichnet. Dort kann man sehen, wie Einheimische Flüchtende bei ihrem Protest gegen die Zustände im Aufnahmelager unterstützen, wie eine engagierte Bürgermeisterin der Insel sowohl für die Einheimischen als auch die Fremden kämpft und wie Künstler vor Ort aus den gestrandeten Habseligkeiten von Flüchtenden aktivistische Kunst machen. „Themenkino“ liefert Brossmanns Film auch nicht, aber er gewichtet völlig anders. Rosis Film läuft im Vergleich Gefahr über die Schönheit und Poesie seiner Bilder einen melancholischen Blick auf die Krise zu befördern, der eher Ängste schürt, als sie zu nehmen.