Notizen zum Kino 5: Das Schweigen der Weblogs wird unterbewertet

Das Schweigen der Weglogs wird unterbewertet
Über die Vorzüge des Schreibens im Netz
Von Volker Pantenburg

Donnerstag. Frühstückstisch. Tageszeitung. Ein Film, den die Produzenten für einen großen deut­schen Film halten und dessen Titel von kaum übersehbaren Plakatwänden herunterschaut, startet im Kino. Ich schlage die Filmseite der FAZ auf. Es ist über diesen Film nichts zu lesen. Mehr noch: Nicht nur ist über diesen Film nichts zu lesen. Es ist auch sonst nichts Neues zu lesen, mein Blick fällt auf eine weiße, leere Seite. Oder: Es ist die gleiche Filmseite nochmal zu lesen, die schon letzte Woche abgedruckt war.

Eine Woche später, schon wieder Donnerstag. Ich schlage die Filmseite der taz auf. Es gibt nichts anderes zu lesen als zwei Hinweise. Der erste Hinweis lautet, dass in der New York Times ein inter­essanter Text abgedruckt ist. Der zweite Hinweis lautet, dass Jacques Tati vor hundert Jahren gebo­ren wurde und dass man anderswo – hier folgt die genaue Angabe, wo – mehr darüber lesen kann.

In beiden Fällen handelt es sich um Vorgänge, die in den Printmedien absurd wirken würden. In Weblogs ist beides völlig normal. Es ist normal, über etwas nicht zu schreiben. Und es ist normal, auf etwas hinzuweisen, das irgendwo anders steht, einen Klick weit entfernt. Der richtige Gedanke zu einem Film, ein präziser Text über ein Festival, ein historisches Dokument über Manny Farber steht häufig längst irgendwo, warum sollte man darüber schreiben? Auch ein Link, flankiert von einem kurzen Satz oder ganz für sich allein, ist ein Text. Und Seiten wie www.filmz.de oder www.angelaufen.de sind hervorragende Tools, wenn man sich für Filmkritiken interessiert; es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, ihnen noch eine weitere hinzuzufügen.
(Anmerkung der Redaktion 2015: filmz.de wurde 2012 eingestellt, angelaufen.de hat nach eigenen Aussagen „aus rechtlichen Bedenken“,  den Dienst eingestellt. Der hier wiedergegebene Text wurde 2009 veröffentlicht.)

Ich fange mit diesen beiden Ausprägungen der Formel „I would prefer not to“ an, weil ich das Schweigen inzwischen für eine der entscheidenden Qualitäten von Blogs halte. Man kann darüber allerdings nicht besonders gut sprechen. Man kann dieses Schweigen weder beziffern noch qualifizieren. Denn das Schöne und Luxuriöse an diesem Schweigen und an den Phasen, in denen nichts passiert, ist, dass es nicht schlüssig interpretierbar ist: Es kann, aber muss nicht heißen, dass dieser große deutsche Film einem vollständig egal ist. Es kann auch heißen, dass man grad keine Zeit hat. Oder dass man sich nicht für kompetent hält. Das Schweigen kann arrogant, faul oder verzweifelt sein, depressiv, aktiv und passiv. Es kann die dunkle Rückseite einer irrlichternd manischen Phase bedeuten oder die Rückseite von gar nichts Bestimm­tem. Vielleicht geht man gerade so häufig ins Kino, dass man keine Zeit hat, darüber zu schreiben, viel­leicht geht man überhaupt nicht mehr ins Kino.

Das Internet wird – ganz zu Recht – meist als Medium der Schnelligkeit, der unmittelbaren Verfügbarkeit von allem und jedem beschrieben. Auch als ein Medium, das – weil nichts gedruckt werden muss, was Geld kostet – prinzipiell «mehr» bringen kann, mehr Text, mehr Bilder, dazu noch Töne und Bildsequenzen. Man kann aber auch die andere Seite herausstellen und sagen, dass durch diesen Vorrang der Fülle und Geschwindigkeit die Trägheit und die Weigerung zu einer Qualität werden. (Ich sollte an dieser Stelle vielleicht betonen, dass ich ausschließlich über die Seiten www.newfilmkritik.de und aus meiner Perspektive auf sie schreibe; wenn es auch für andere Seiten gilt, dann sicher eher für Blogs und kaum für Service-orientierte Filmseiten.) Und die Stille, die im Blog zwischen den an ihre jeweiligen Daten gebundenen Einträgen entsteht, macht es zu etwas Unberechenbarem und Besonderem, wenn dann doch plötzlich und überraschend ein Satz, ein Bild, ein kurzer oder ein 35-seitiger Text auftaucht.

Also, Element 1: die Überraschung, wenn etwas passiert. Die Überraschung, wenn nichts pas­siert. Das Verhältnis zwischen beidem ist nicht zu kalkulieren, das verbindet das Blogschreiben mit dem Rest des Lebens, in das es eingebettet ist: Mal passiert wenig, dann viel; es wäre absurd, das auf einen festgelegten Formatierungsnenner bringen zu wollen. Schon diese Art, nicht kalkulierbar zu sein, ist etwas wert.

Das zweite Beispiel, mit dem ich oben begonnen habe, markiert eine andere Differenz zu den Printmedien. Eine Differenz in der Haltung. Auf etwas anderes hinzuweisen ist eine schöne Geste, weil sie immer mit erzählt, dass man von sich selbst absieht. Es ist – oder sollte sein – eine Geste der Anerkennung und des Teilens. Natürlich kann diese Geste vom unangenehmen Beigeschmack verdorben werden, dass man, weil man diese Sache gefunden hat, zugleich sich selbst als Entdecker ausstellt. Dann steht das Besondere im Vordergrund, während doch auch hier das Gewöhnliche interessanter ist. Das Besondere ist eine Angelegenheit des Feuilletons, wo bei jedem Artikel seine Wertigkeit mit kommuniziert werden muss; das Blog kann zumindest auch ein Ort des Gewöhnlichen sein. Alltag.

Das ist etwas, das mir 2002, als ich die Seite newfilmkritik.de durch Zufall entdeckte, sehr gefiel, ohne dass ich es genau hätte benennen können. Die wenigen Leute, die dort schrieben, seit Michael Baute und Ludger Blanke das Blog im November 2001 eingerichtet hatten, richteten sich an verschiedene Arten von Lesern. Die Leser, an die man sonst denkt – die vielen anonymen (der Leser als Quote, der Leser als „Auflage“, der Leser mit seinem „Bedürfnis“) gehörten nicht dazu. Die Leser, für die diese Texte geschrieben wurden, waren vielmehr die anderen Schreiber auf dieser Seite. Und andersherum waren die Leute, die dort schrieben, in einem emphatischen Sinne die Leser der jeweils anderen. Man merkte das den Texten deutlich an. Das Bedürfnis, das aus den Texten sprach, war das jeweils eigene, und nicht das einer hypostasierten Leserschaft. Dass es nichts zu verkaufen und nichts zu verdienen gab, half diesen anderen Wünschen und Tonfällen zu einer Ausdrucksform. Nicht im Sinne einer Heroisierung des Unbezahlten, sondern als Voraussetzung für eine bestimmte Art von Freiheit im Ausdruck.

Es war zwar nicht genau zu sagen, wie die Au­toren zueinander standen, aber dass hinter den Texten ein geteilter Begriff vom Kino und ein so­zialer Zusammenhang lagen, vermittelte sich. Das klingt jetzt etwas verschwörerisch, aber dadurch, dass diese Verschwörung öffentlich stattfand, bekam sie zugleich einen völlig anderen Charakter. Überhaupt moduliert sich das Verhältnis von „privat“ und „öffentlich“ ja mit jedem Text im Internet neu.

Es gab also ein „Wir“, das ein anderes „Wir“ als das redaktionelle „Wir“ einer Tageszeitung oder Filmzeitschrift war, das sich aber beispielsweise auch vom „Wir“ der Revolver-Gründer unterschied. Die Textgattung, mit der ich die Zeitschrift Revolver am stärksten assoziiere, ist das programmatische Editorial, das fast immer mit „dem deutschen Kino“ zu tun hat. Damit, wie es ist oder wie es sein sollte und wie die Protagonisten der Münchener, später Berliner Zeitschrift in diesem Zusammenhang ihre Rolle einschätzen. Auch bei der newfilmkritik war einer der Impulse eine Verbindung hin zur Praxis, auch hier schrieben Regisseure und andere, passiv Filmaffizierte. Aber da war niemand auf der Suche nach einer gemeinsamen Stimme. Eher im Gegenteil. Es wollte auch niemand erkennbar irgendwohin mit seinem Text. Es waren Beobachtungen, Hinweise, fragmentarische kleine Erzählungen. Dass der Name der Seite, newfilmkritik, sich so ausdrücklich auf die alte Filmkritik bezog, schien mir richtig, und zugleich problematisch – ich mag den Namen bis heute nicht wirklich; oder wenn ich ihn mag, dann aus Gewöhnung.

Dazu gehört für mich auch, dass die 50 oder 60 Autoren, die seit 2001 bei der newfilmkritik geschrieben haben, nicht zur Vergangenheit oder „Geschichte“ der Seite gehören, sondern zur un­mittelbaren Gegenwart. Denn aus der Perspektive des Lesers, die mir näher ist als die des Autors, falten sich ja alle Texte – unabhängig von ihrem Entstehungszeitpunkt – in die Gegenwart des Lesens, ins Hier und Jetzt hinein. Ein kurzer Bericht von Christian Petzold, wie er auf einem Festival in Belgien die ersten Minuten von Claire Denis‘ Trouble Every Day sieht, bevor er zum Flughafen muss, Michael Bautes „Schwenk über eigen- und fremdverfasste E-Mails“ des Jahres 2003, der, würde man ihn ausdrucken, gut 15 Seiten lang wäre, Angela Schanelecs Notizen aus der Recherchephase zu Marseille, Wolfgang Schmidts Motiv-Beobachtungen zum deutschen und internationalen Kino, Harun Farockis ausführliche Notizen zur Entstehung seiner documenta-Arbeit, die regelmäßigen Straub-Huillet-Dossiers, die Klaus Volkmer vom Münchner Filmmuseum für unsere Seite zusammenstellt, Simon Rothölers Hinweis auf Barack Obama im Dezember 2006: Wenn ich jetzt und hier vor dem Bildschirm sitze, liegt jeder dieser Texte gleich weit entfernt von mir als Leser, und diese Struktur ist für das Weblogschreiben konstitutiv: Ein Eintrag ist vielleicht nur einen Tag lang auf der Hauptseite zu sehen, dann verschwindet er im Archiv; aber das Archiv wiederum ist auf eine Weise gegenwärtig, wie es ein Printarchiv nicht sein kann.

Peter Praschl hat die Qualität dieses flüchtigen Schreibens einmal in einem sehr melancholischen und treffenden Rückblick auf diese Phase so be­schrieben, dass das Texteschreiben etwas vom Ein- und Ausatmen hatte, genauso essentiell und genauso wenig renditeverdächtig. Damals jedenfalls, denn der Potlatch-Gedanke, der das Internet eine Weile insgesamt zu begleiten schien, hat sich längst verloren oder in die Nischen verflüchtigt. Vielleicht ist ein Teil der generösen Praxis, Texte zu verschenken, in den Luxus umgeschlagen, nichts zu einer Sache sagen zu müssen.

Es ist ja logisch, dass das Schreiben im Feuilleton auf Abgrenzung und Alleinstellungsmerkmale aus ist. Schon allein, weil die festliegenden Kinostarts wöchentlich gemeinsame Themen vorgeben. Jeder schreibt über den neuen Bond, jeder schreibt über Willkommen bei den Sch’tis, und keiner schreibt über den Baader Meinhof Komplex nicht. Immerhin, man kann darüber so schreiben wie Ekkehard Knörer im Perlentaucher oder so wie Tobias Kniebe in der SZ, damit ist das Spektrum der Möglichkeiten für eine kinostart-orientierte Filmkritik relativ präzise umrissen. Das Blogschreiben ist demgegenüber ein privilegiertes Schreiben, weil es von diesen Vorgaben absehen kann. Es darf idiosynkratrisch, vielleicht auch anarchisch sein, ohne das Subjektive mit der Freiheit von objektiven Rahmenbedingungen zu verwechseln. An welcher Stelle die persönliche Verantwortlichkeit in den schlechten Subjektivismus kippt, ist nicht immer leicht zu beurteilen, aber andererseits kann man ja einen schlechten und narzisstischen Tagebuchtext durchaus von einem guten Tagebuchtext unterscheiden.

In einem Gespräch im Vorfeld dieser Veranstaltung berichtete Gerhard
Midding mir von der Skepsis der Printmedien gegenüber dem Internet. (Was ja nur heißen kann: gegenüber dem ungeregelten Schreiben im Netz, denn selbstverständlich hat jede Tageszeitung ihre Ableger im Internet.) Wenn ich die Einwände, Ängste und Vorbehalte gegen dieses eher unregelmäßige als regellose Filmschreiben im Internet richtig verstehe, haben sie mit einem bestimmten Aspekt dieser Praxis zu tun: Es gibt keine Redaktion und somit auch keine Instanz, die für Qualitätsmaß­stäbe bürgt. Es kann ja schlechterdings „alles“ ins Netz gestellt werden, und von diesem beängstigenden Panwebismus ist man dann schnell bei einem lauwarmen Aufguss des seit Jahrzehnten gern erhobenen kulturkritischen Beliebigkeitsvorwurfs.

Demgegenüber möchte ich den gleichen Sachverhalt gerne von der anderen Seite beleuchten. Denn man kann die Tatsache, dass zwischen Autor und publiziertem Text tatsächlich nur ein Click auf den „publish“-Button liegt, auch anders auffassen: Alles, was in der newfilmkritik zu lesen ist, ist vollständig dem jeweiligen Autor zuzuschreiben. Jedes falsch gesetzte Komma, jede Überschrift, jedes unpassende Wort und jeder ungelenke Satz. Damit fallen eine Menge Ausflüchte weg: dass die Redaktion etwas herausgestrichen oder geändert hat, dass eine Bildunterschrift nicht stimmt oder eine Überschrift keinen Sinn ergibt. All das ist Sache des Autors oder der Autorin. Insofern, so wäre mein Gedanke, ist das Blogschreiben der Ort einer verschärften Autorenethik. Und wenn man sich für einen Moment dazu durchringt, einen mündigen Leser vorauszusetzen, ist dies auch gleich erkennbar: Man sieht ja, ob ein Text schlampig ist oder gut, ob darin eine Sorgfalt erkennbar ist oder nicht, ob der Text – und vielleicht das ganze Blog, in dem dieser Text steht – überhaupt in irgendeiner Weise satisfaktionsfähig oder im Gegenteil einfach nur peinlich ist. Dass es in der zunehmenden Menge von Blogtexten über Filme jede Menge Unsinn gibt, ist ebenso banal und richtig wie die Aussage, dass dies in keinster Weise gegen das Medium oder die spezifische Publikationsform spricht.

In dem Gespräch über diese Veranstaltung war auch die Rede davon, dass auf einem der Podien doch jemand die Utopie vertreten solle, die sich mit dem Publizieren im Netz verbindet. Ich denke, um über die Utopie anders als historisch zu sprechen, hätte man die Konferenz vor fünf Jahren stattfinden lassen müssen. Denn in der Zwi­schenzeit hat mit der breiten Wahrnehmung und der quantitativen Explosion der Blogs auch eine Verwertungslogik eingesetzt, die ein tastend-euphorisches Schreiben, ein Schreiben, das auf dem Weg ist, ohne zu wissen wohin, in den Blogs selte­ner macht.

Ich nenne kurz drei Erscheinungswei­sen:

Es gibt die Werbebanner und Anzeigen, die Links zu amazon.de und sonstwohin. Das ist die immerhin transparenteste Form der Ökonomisierung. Angeblich verdient man als Seiteninhaber jedes Mal, wenn jemand klickt, ein paar Cent.

Es gibt zweitens die Institution des Linktauschs, wo das Ökonomische schon unangenehm mit dem Sozialen vermengt ist. Per Sammelmail wird man gefragt, ob man nicht auf diese und jene Seite verlinken möchte, dann werde man im Gegenzug ebenfalls verlinkt. (Vorgestern Morgen im Radio erinnerte Alexander Kluge im Zusammenhang seiner Marx-DVD an Adam Smiths Bemerkung, er habe noch nie zwei Hunde Knochen tauschen sehen.)

Und es gibt drittens, schwerer zu beschreiben, haufenweise Texte, die exakt so klingen, als seien sie für das Feuilleton der FAZ gedacht, aber nun halt aus FAZ-Mangel hier gelandet. Manche Filmseiten wirken von A bis Z wie ein perpetuiertes Bewerbungsschreiben. Das Traurige daran ist, dass man dadurch die gleichen Strukturen mit den gleichen Formaten und den gleichen prätentiösen Schreibgesten nachgebaut sieht, die man in der Tagespresse am liebsten hasst: Texte, die nicht wissen, dass es seit mindestens 30 Jahren ein Verbot gibt, bei Festivalberichten über den roten Teppich zu schreiben und dass auch das Klima, die Palmen an der Croisette und die Restaurants diesem Verbot unterliegen. Texte, die nicht einsehen, dass die pompöse Anmaßungsfloskel „Längst gilt“ nur dann zulässig ist, wenn man die eigene Denkfaulheit dokumentieren möchte, nicht sagen zu können, seit wann was überhaupt bei wem eigentlich genau „gilt“.

Bei der newfilmkritik fließt kein Geld, es gibt keine Werbung (außer von uns für Menschen und Dinge, die wir mögen), und niemand hat je ein Honorar bekommen. Das ist zu konstatieren, nicht zu glorifizieren. Ich bin nicht so naiv, da­mit irgendein Außerhalb zu den beschriebenen Markt- und Verwertungslogiken zu verbinden. Aber in bescheidenem Maße kann man natürlich versuchen, nicht mitzumachen beim abstrakten Linktausch, beim Werbebannerwettlauf oder beim User-Content-Service-Rennen. Das geht nur, wenn man nicht davon leben muss, ganz klar.

Würde ich an die Utopie glauben, dann läge sie vielleicht darin, die Luft anzuhalten oder etwas weniger hektisch zu atmen.

Volker Pantenburg ist freier Autor bei www.newfilmkritik.de, Jungle World, www.kolikfilm.at

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