Filmkritik: Bombay Beach

Mitten in der Wüste, am Rande der Gesellschaft

Ein Dokumentarfilm, der auf die Ästhetik und filmischen Mittel von
Musik-Clips setzt, um soziale Realität abzubilden und seinen
Protagonisten gerecht zu werden – geht das? Schon in Spielfilmen mutet
es zuweilen seltsam an, wenn die Darsteller mitten in der Szene in Tanz
und Gesang verfallen – man nennt es dann Musical. Aber ein
Dokumentarfilm, in dem sich die Protagonisten plötzlich zu Musik
choreografiert für die Kamera bewegen, geht das? Die Filmemacherin Alma
Har'el hat genau das gewagt und liefert – nachdem sie vorher
Musik-Videos inszeniert hat – mit Bombay Beach ihr ebenso unkonventionelles wie sehenswertes (Dokumentar-)Filmdebüt.

Die Szenerie wirkt post-apokalyptisch: Ein riesiger Salzsee mitten in
der Wüste, an seinen Ufern die Trümmer der Zivilisation und ein Häufchen
Leute, die am Rande der Gesellschaft ihr Leben fristen. Noch in den
1950er Jahren war Bombay Beach, am Ufer des Saltonsees in Kalifornien
gelegen, ein boomendes Ferien- und Angel-Resort mit schicken Häuschen
und viel Fisch direkt vor der Haustür. Der Reklame-Spot aus den 1950er
Jahren, der Bombay Beach eröffnet, preist das Leben am Strand an,
lockt Leute in das traumhafte Paradies. Mit einem harten Schnitt holt
die Regisseurin den Zuschauer in die heutige Realität vor Ort: Eine
Geisterstadt wie aus einem Fiebertraum. Der steigende Salzgehalt und
wiederholte Überschwemmungen haben zu Fischsterben, Abwanderung und
Niedergang der Region geführt. Nachdem alle wieder gegangen sind, haben
ein paar Leute aus der Peripherie der Gesellschaft hier ihren Platz
gefunden; unter einer Sonne, die das Niemandsland in einem surrealen
Licht erstrahlen lässt. Wenig mehr als 100 Menschen wohnen hier in
halbverfallenen Häusern und verrottenden Trailern in der Wüste.

Alma Har'el konzentriert sich auf drei von ihnen: Da ist der alte Red,
der seinen Lebensunterhalt bestreitet, indem er im Indianerreservat
steuerfrei Zigaretten einkauft und sie mit Gewinn weiter vertickt. Dann
hat er einen kleinen Schlaganfall, muss ins Krankenhaus und erholt sich
in Fresno. Er ist heilfroh, dass er nach einiger Zeit wieder zu seiner
durch Armut und Alkoholsucht geprägten Community in den Trailern von
Slab City zurückkehren kann. Die "wild-romantische" Seite dieser
Lebensform wird übrigens in Into the Wild
gestreift, wenn Alex Supertramp bei den Hippies dort am Salvation
Mountain Station macht. Slab City "is made up for the misfits of the
world", sagt Red. "You have to improvise in order to survive", ist sein
Motto. Seine tiefe, melodisch-knarzende Stimme erzählt aus dem Off von
seinem Leben, seinen Ansichten, seinen Träumen.

Ebenso erklingt die Kinderstimme des kleinen Benny Parish, der
wundersame Dinge kundtut, wie etwa "I was in Jail for one hundred
years". Er war nicht im Gefängnis, seine blühende Phantasie und sein
Bewegungsdrang jedoch wurden als bipolare Störung diagnostiziert und nun
mit Unmengen von Tabletten im Zaum gehalten. Er selbst sagt, er sei
verrückt, aber seine Mutter erklärt ihm liebevoll: "No you're not crazy
sweet, don't ever think you're crazy!". In Beobachtungen wie diesen
erkundet die Regisseurin Menschlichkeit und Zusammenhalt, die vor dem
Hintergrund desolater Lebensbedingungen und harter Biografien noch
stärker wirken. Bennys Eltern waren beide im Knast wegen Waffen- und
Sprengstoffbesitz. Früher haben sie sich weniger um ihre Kinder als um
ihr explosives Hobby gekümmert. Auf alten Familien-Videos sieht man den
Vater in seinem riesigen "Trainings-Camp" herumballern.

Auch vom dritten Protagonisten gibt es Archivmaterial. Es zeigt ihn bei
der Beerdigung seines Cousins, der mit sechzehn von einer verfeindeten
Gang in L.A. erschossen wurde. CeeJay ist daraufhin aus South Central zu
seinem Vater in die Wüste geschickt worden, damit ihm ein solches
Schicksal erspart bleibt. Mitten im Nirgendwo hat er bessere
Perspektiven als am Rande des Banden-Kriegs in der Großstadt. Er geht
nun als erster seiner Familie aufs College.

Bombay Beach ist in Alma Har'els Film ein seltsamer, surrealer Ort der
Hoffnung. Die Erzählungen der Protagonisten geben der Szenerie
stellenweise eine fast mythisch wirkende Anmutung, die an die Weltsicht
der kleinen Hushpuppy aus Beasts of the Southern Wild
erinnert. Immer wieder gleitet die Realität nahtlos ins Surreale und
beobachtete Szenen verschmelzen mit choreografierten Sequenzen zu einem
faszinierenden Trip an die ausfransenden Enden des Amerikanischen
Traumes. Nur selten wirkt etwas aufgesetzt (wie der Streit von Ceejays
Freundin mit ihrem Ex) und als Fremdkörper in diesem traumwandlerischen
Fluss von Bildern.

Bombay Beach hat alles, was man sich von einem guten
(Dokumentar-)Film erhofft: interessante Protagonisten, sympathisch aber
mit Ecken und Kanten (so outet sich der nette alte Red ganz nebenbei als
echter Rassist); eine Regisseurin, die Menschen nicht nur abfilmt,
sondern ihr Leben und ihre Träume ernst nimmt (und die sie in den
inszenierten Tanz-Szenen sogar mit in den Prozess der Filmgestaltung
einbezieht); eine herausragende Musik-Auswahl (von Beirut und Bob
Dylan); berauschend schöne Bilder (von Alma Har'el selbst gedreht). Und Bombay Beach hat noch mehr: Licht, Fantasie, Träume, Sehnsucht, eine nahezu hypnotische Wirkung.

Der Film taucht in eine soziale Wirklichkeit ein und transformiert sie
zu einem eigenwilligen Gesamtkunstwerk, seltsam erhebend und verstörend
zugleich. Und wenn man nach achtzig Minuten wieder aus diesem bewegenden
Rausch der Bilder, Töne, Gesichter und Geschichten auftaucht, hallen
diese noch lange nach. Das ungewöhnliche filmische Experiment
"Documentary meets Musical" ist Alma Har'el auf ganzer Linie gelungen.

(Kirsten Kieninger für kino-zeit.de)

Kirsten Kieninger

Filmschnittmeisterin, Kommunikationswirtin und Filmkritikerin.

Während des Studiums der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin die Vorliebe für das bewegte Bild entdeckt.
Als Diplom Kommunikationswirtin dann beschlossen, das Medium Film wirklich zu begreifen und dahin zu gehen, wo Filme tatsächlich entstehen: in den Schneideraum.
Studium der Filmmontage an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Seit 2002 Diplom Schnittmeisterin.

Als freie Filmeditorin bevorzugt Schnitt von Dokumentarfilmen, als Autorin vor allem Filmkritiken und Essays, Festivalberichte und Interviews (u.a. für Rhein-Neckar-Zeitung, kino-zeit.de, Film&TV Kameramann).

Besonderes Interesse für die Konstruktion und Wahrnehmung von Wirklichkeit im Film und die Repräsentation von Realität im Dokumentarfilm - immer auch mit Blick auf die Kunst der Filmmontage.

Engagiert im Programmrat des Karstorkino Heidelberg.

FIPRESCI-Juries:
DOK Leipzig 2012
Thessaloniki Documentary Festival 2013
Flahertiana Documentary Festival Perm 2014
Thessaloniki Documentary Festival 2015

www.gegenschnitt.de
www.kirstenkieninger.de