Notizen zum Kino 1: Deutsche Filme über das Dritte Reich

Nachrichten vom Untergang
Aktuelle deutsche Filme über das Dritte Reich
von Marcus Stiglegger

 

Abel Tiffauges (John Malkovich) ist ein etwas naiver, tumber Mann, der als ein Tor von fast kindlicher Begeisterungsfähigkeit vorgestellt wird. Es dauert fast die halbe Spielzeit des Films, bis er in Volker Schlöndorffs Der Unhold (1996) in eine Napola (nationalpolitische Erziehungsanstalt) der Nazis versetzt wird, in die SS-Schule Kaltenborn. In einen dunklen Filzumhang gehüllt, mit alter Feldmütze, Nickelbrille und fingerlosen Wollhandschuhen reitet er in den Hof ein wie ein Gespenst. Den Appellplatz säumen dichte Reihen uniformierter junger Männer, die ihn neugierig betrachten. Sichtlich ergriffen reagiert der französische Zwangsarbeiter Tiffauges auf die offenbar naheliegendste ritualisierte Weise: er streckt seinen Arm zum Führergruß und erweist dem ideologischen Nachwuchs des Feindes tiefgreifenden Respekt.

Volker Schlöndorffs Inszenierung dieser Schlüsselsequenz bezieht sich direkt auf den Subtext des zugrunde liegenden Romans „Der Erlkönig" von Michel Tournier. Aus der personalen Sicht des Naiven schildert der Autor dort scheinbar ungebrochen das einnehmende Faszinosum nationalsozialistischer Masseninszenierungen. Schlöndorff bemüht sich in den folgenden Sequenzen immer wieder um diesen naiven Blick auf eines der großen Schreckenssysteme des 20. Jahrhunderts und beschwört so den „schönen Schein des Dritten Reiches" (Peter Reichel) – wofür er sich umgehend massive Kritik einhandelte: Er verherrliche die Ästhetik der Vernichtung, er reduziere den Blick auf die ästhetischen Aspekte des Militärsystems, wurde ihm vorgehalten. Dabei ist Der Unhold weder frei von jener Ironie, die Schlöndorffs Film Die Blechtrommel (1980) einst zum Erfolg verholfen hatte, noch verschweigt er das bittere Ende der SS-Schule in Feuer, Blut und Tränen. Schlöndorff verteidigte sein ästhetisches Herangehen an die Thematik, indem er darauf verwies, dass es zur Basis des Nationalsozialismus gehört habe, völlig Oberfläche und Ritual zu werden. Der Blick auf die Selbstdarstellung des Nazi-Regimes in den Filmen Leni Riefenstahls (Triumph des Willens, Tag der Freiheit) bestätigt diese Annahme.

Man könnte den Blick noch einmal zwanzig Jahre zurückschweifen lassen: Bereits 1970 erntete Luchino Visconti massive Kritik für seine Nazi-Tragödie Die Verdammte". In den Filmen jener Jahre, die das Dritte Reich thematisierten, sah der Historiker Saul Friedländer einen „neuen Diskurs über den Nationalsozialismus": „Kitsch und Tod", nannte er seinen einflussreichen Essay, der das Filmgeschehen von Visconti bis zu Fassbinders Lili Marleen (1981) betrachtete. Nach Steven Spielbergs Historiendrama Schindlers Liste (1994) konnte man zumindest im Bezug auf die Darstellung des nationalsozialistischen Völkermordes von einem „neuen Diskurs" sprechen, der u.a. mit Roberto Benignis Das Leben ist schön (1998) ganz eigene künstlerische Höhepunkte hervorbrachte. Mit dem neuen Millennium häufen sich nun Spielfilme, vor allem aus Deutschland, die einen neuen, anderen Blick auf das System des Nationalsozialismus versuchen: Filme wie Der Untergang (2004), Napola – Elite für den Führer (2004), Der neunte Tag (2004), Rosenstraße (2002), Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005) u.a., begleitet von thematisch ergänzenden Fernsehproduktionen: Stauffenberg (2003), Die Kirschkönigin (2004) usw. Gibt es einen „neuen Diskurs" über den Nationalsozialismus im aktuellen deutschen Kino? Und wenn ja: Was ist neu daran?

Moral und Gewissen

Deutsche Filme über das Schicksal der verfolgten und internierten Opfer des Nationalsozialismus hat es vor allem in den Jahren nach Spielbergs Schindlers Liste (1994) im Fernsehen und Kino einige gegeben. Zwei deutsche Beiträge ragen aus der Produktion der Folgejahre heraus: Drei Tage im April (1994) von Oliver Storz erzählt von einem kleinen Dorf, in dem kurz vor Kriegsende ein Waggon mit jüdischen Häftlingen abgestellt wird. Niemand fühlt sich zuständig, eines Nacht schieben die Dorfbewohner den Anhänger einfach auf ein unbenutztes Gleis im Niemandsland. Erzählt wird das aus der Sicht eines zunächst regimetreuen BDM-Mädchens, das angesichts der unmenschlichen Situation an der Richtigkeit des Systems zu zweifeln beginnt. War Storz noch auf die Mittel des Fernsehspiels angewiesen, konnte Andreas Grubers Kinofilm Hasenjagd (1994) zusätzlich durch eine visuell präzise konzipierte Bildwelt überzeugen: In monochromen Bildern erzählt er von der Flucht einiger Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mauthausen, die von der SS mit Hilfe der gesamten Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern in einer „Hasenjagd" gestellt werden sollen. Das historisch fundierte Geschehen gerät in diesem Film zur beklemmenden Metapher für die unweigerliche Mitschuld aller Beteiligten. Auch der Erfolg der bitteren Komödie Das Leben ist schön hinterließ seine Spuren in Deutschland: Die für das deutsche Fernsehen gedreht Doppelgängerkomödie Goebbels und Geduldig (2002) von Kai Wessel nahm ebenfalls komödiantisch Maß an einem ernsthaften Thema. Andere deutsche Produktionen inszenierten Melodramen und Komödien vor dem tragischen Hintergrund des Holocaust: Joseph Vilsmeiers Comedian Harmonists (1997) und Marlene (2000), Rolf Schübels Gloomy Sunday – Ein Lied von Liebe und Tod (1999), Xavier Kollers „Gripsholm" (2000) u.a., allesamt Filme, die zahlreiche historische Aspekte streiften, wo Verfolgung und Vernichtung von Juden und anderen Opfergruppen am Rande behandelt wurden, die sich jedoch hauptsächlich auf den melodramatischen Aspekt konzentrierten.

Nach Der Unhold mag es wie ein bewusster Gegenentwurf erscheinen, dass sich Schlöndorff mit „Der neunte Tag" (2004) einer ganz dezenten, minimalistischen Perspektive bediente, um die Geschichte des Priesters Kremer (Ulrich Matthes) zu erzählen, der neun Tage „Urlaub" von seiner Haft im Konzentrationslager Dachau erhält, um in temporärer Freiheit den luxemburgischen Bischof zu überzeugen, mit den Nazis ebenso zu kollaborieren wie andere kirchliche Würdenträger auch. In einer intensiven Dialogsituation mit dem Gestapo-Mann Gebhardt (August Diehl), der ein intellektuelles Spiel von Nähe und Distanz, Hoffnung und Desillusionierung inszeniert, wird das moralische Dilemma deutlich: Wenn Kremer nur etwas von seinem Glauben abrücken würde, könnte er sich und seinen kirchlichen Mithäftlingen das Leben retten. Gebhardt bietet ihm dazu eine neue Lesart der Judas-Geschichte an: Wenn es nie zum Verrat an Jesus gekommen wäre, hätte dieser möglicherweise nie das religionsstiftende Opfer erbringen können. In Gebhardts Perspektive ist Judas demnach kein Verräter, sondern eine visionäre christliche Schlüsselfigur.

Schlöndorffs moralische Fabel Der neunte Tag, basierend auf dem Tagebuch eines Priesters, ist im Vergleich zur ästhetischen Herangehensweise in „Der Unhold" mit äußerstem Minimalismus inszeniert. Nur wenige Eindrücke aus dem Lagerleben werden in einer Art detailfixierten „Tunnelvision" vermittelt, gerade genug, um als Schreckensbild in der Vorstellungswelt des Zuschauers in Erinnerung gehalten zu werden. Kleine Details treten in den Fokus, die Alltäglichkeit des Grauens im Lager. Große Strecken des Films jedoch funktionieren als Kammerspiel. Der neunte Tag kann auch als Gegenstück zu Constantin Costa-Gavras' Hochhuth-Verfilmung Der Stellvertreter (2002) gelesen werden, das explizit die Verstrickungen der katholischen Kirche mit dem nationalsozialistischen System thematisiert und die Frage stellt, wie es kommen konnte, dass der Papst die Verfolgung und Vernichtung von Millionen von Menschen hinnehmen konnte. Costa-Gavras' Film ist inszenatorisch konventionell angelegt, kann aber als der riskantere und politischere Film gelten, der die Frage nach Verantwortung der Gesellschaft und des Einzelnen zugleich stellt. Doch das war nach Schlöndorffs eigenen Aussagen gar nicht das Ziel von Der neunte Tag.

Das filmische Bild der Verfolgung im Dritten Reich suchte auch eine andere Perspektive: Von den 1940er-Jahren an hatte sich der deutsche Produzent jüdischer Herkunft Arthur Brauner mit seiner CCC-Film um die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes bemüht – oft gegen den Wiederstand von Presse und Publikum. Der Höhepunkt dieser Beschäftigung sollte Brauners Produktion von Jeff Kanews Babij Jar – Die Schlucht der Vergessenen (2002) werden, doch der Film vermittelt in seiner einfachen Struktur und stereotypen Inszenierung kaum eine Ahnung dieses unfassbaren Massakers, bei dem über 30.000 Menschen an zwei Tagen getötet wurden. Von Ferne klingen Eindrücke aus Elem Klimows Komm und sieh (Idi i smotri, 1985) nach, der eine der nachhaltigsten filmischen Visionen des Massenmordes im Osten inszenierte. „Zu zeigen, wie es war", heißt jedoch nicht, dokumentarisches mit fiktivem Material zu mischen, heißt nicht, einfach ein historisches Ereignis mit medial geprägten Impressionen nachzustellen. Um wirklich eine Ahnung des Grauens zu vermitteln, bedarf es noch immer einer künstlerischen Vision, einer Begabung, pars-pro-toto Bilder und Klänge für ein Geschehen zu finden, von dem man sich kaum eine Vorstellung zu machen vermag. Die Filmgeschichte hat bis in die Gegenwart immer wieder solche Momente hervorgebracht, aber sie sind selten und bedürfen immer neuer Versuche. So ist dieses Kapitel der künstlerisch adaptierten „Vorstellungen von einem Schreckensort" (Thomas Koebner) noch lange nicht abgeschlossen.

Jugend der Diktatur

Bis heute wird der nationalsozialistische Propagandafilm Hitlerjunge Quex (1933) von Franz Steinhoff mit äußerstem Unbehagen betrachtet. In der dramaturgischen Form eines tragisch endenden „Jugendabenteuers" vermittelt der Film sehr genau das Bild, das sich die Nazi-Ideologen von ihrem Nachwuchs zurecht gelegt hatten. Adolf Hitler wollte eine „gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend", die einst sein totalitäres Reich übernehmen sollte. In Hitlerjunge Quex werden diese Dimensionen verkleinert auf die häuslichen und öffentlichen Konflikte zwischen dem linksgerichteten Arbeitervater und seinem HJ-Sohn, zwischen der libertinen linken Jugend und der militaristischen HJ. Nebenbei mag der Film ein zutreffendes Bild von den Unruhen der Weimarer Republik vermitteln, doch tatsächlich ist ihm daran gelegen, das pathetische Martyrium eines „unschuldigen" Jungen zu schildern, der von Kommunisten niedergestochen und so zum „Märtyrer-Helden" des Nazi-Nachwuchses stilisiert wird.

Um ihren Nachwuchs programmatisch im Sinne der totalitären und rassistischen Ideologie zu schulen, gründeten die Nazis überall in ihrem Reich „Ordensburgen", sogenannte „Nationalpolitische Erziehungsanstalten" (Napolas), in denen die intellektuell und körperlich geeigneten Jugendlichen im Sinne des Regimes erzogen wurden. „Nichts Schwaches und Zärtliches" sollte an ihnen sein, verlangte Hitler: „In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird." Johannes Leebs Jugenderinnerungen „Wir waren Hitlers Eliteschüler" zeugt von diesem oft ausgeblendeten Kapitel nationalsozialistischer Machtentfaltung. Bekannte Personen der deutschen Öffentlichkeit waren in solchen Institutionen aufgewachsen: Hardy Krüger, Alfred Herrhausen, Hellmuth Karasek u.a.

Der junge Drehbuchautor und Filmemacher Dennis Gansel (geboren 1973) wurde vor allem durch die Teenie-Komödie Mädchen, Mädchen (2001) bekannt. Bei der Recherche zu dem RAF-Thriller Das Phantom (2000) stieß er auf die Napola-Vergangenheit des Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Mit seiner Co-Autorin Maggie Peren schreib er das bereits vor Drehstart prämierte Drehbuch Napola" – Elite für den Führer (2004), dessen filmische Umsetzung im Januar 2005 erstaufgeführt wurde. Wiederum eine Arthur Brauner-Produktion war bereits 1989 mit diesem Thema umgegangen: Hitlerjunge Salomon von Agnieszka Holland erzählte von einem jüdischen Jungen, der unentdeckt als Schüler einer Napola den Krieg überlebte. Gansels Film geht inhaltlich auf den ersten Blick weniger ambivalent zu Werke. In Napola sehen wir die Geschichte des 17-jährigen Arbeitersohnes Friedrich Weimer (Max Riemelt), der aufgrund seines Boxtalents und gegen den Willen seiner Eltern für die Napola Allenstein rekrutiert wird. Eine Karriere innerhalb des Nazi-Regimes verspricht ihm eine hoffnungsvolle Zukunft, und in der Anfangszeit erlebt er Momente der Euphorie und treuer Kameradschaft angesichts eines inhumanen militärischen Drills. Die Freundschaft zu dem sensiblen Gauleitersohn Albrecht Stein (Tom Schilling) sät erste Zweifel in die ideologische „Mission", und als die Napola-Schüler an der Jagd auf russische Kriegsgefangene beteiligt werden, kommen die beiden Jungen an einen dramatischen Punkt der Entscheidung. Albrecht revoltiert mit einem Aufsatz gegen das System und katapultiert sich ins Abseits. Als er sich den folgenden Schikanen durch Freitod entzieht, ist auch in Friedrich der Impuls zum Widerstand geweckt. Dennis Gansels bildgewaltige Breitwandinszenierung vollzieht die emotionalen Regungen seines jungen Protagonisten nach: Von der anfänglichen Euphorie über erste Zweifel angesichts erlebter Ungerechtigkeit bis hin zur völligen Ernüchterung. Angelo Badalamentis elegische Streichermotive unterstreichen die Absicht des Films, von einem totalitären System aus streng personaler Sicht zu berichten. Dabei entfernt sich der Film auf Dauer zwar von der politischen Dimension des Geschehens – so gelingt es ihm beispielsweise kaum zu erklären, warum denn nun so viele Schüler der Napolas gerade nicht revoltierten -, doch die tiefgehend emotionalisierten Sequenzen gegen Ende bieten zumindest Identifikationspotential für ein junges Kinopublikum, das über diesen Umweg wiederum mit der historischen Komponente vertraut gemacht wird. Die zu Beginn monumentalen und rasanten Tableaus weichen zusehends einer beklemmenden Finsternis, die in den eisverkrusteten Strukturen des Abspanns kulminiert. In jedem Fall ist Napola ein überraschender und erstaunlicher Film – für das gegenwärtige Filmgeschehen, für den noch jungen Filmemacher Gansel und für die kommerziell orientierte Constantin Filmproduktion.

Ein regimetreuer Jugendlicher kommt zum erstenmal mit den Kriegsverbrechen des Dritten Reiches in Berührung und beginnt an seinem Weltbild zu zweifeln – eine solche Szene kennt man auch aus Michael Verhoevens 1982 inszeniertem Widerstandsdrama Die Weiße Rose, das zeigt, wie aus anfänglichen Mitläufern schließlich die studentische Widerstandsgruppe entstand, die ihr Engagement am Ende mit dem Leben bezahlte. Dort wird ebenfalls die Zeugenschaft von Hans Scholl bei einem deutschen Kriegsverbrechen zum Mitauslöser des Gesinnungswechsels. Wo Verhoevens Film versucht, die ganze (kurze) Geschichte der Weißen Rose zu skizzieren, widmet sich Marc Rothemund in seiner aktuellen Produktion Sophie Scholl – Die letzten Tage (2004) ausschließlich den letzten sechs Tagen im Leben der jungen Frau. Im Februar 1943 wird die junge Studentin (Julia Jentsch) bei einer Flugblatt-Aktion gegen das Nazi-Regime zusammen mit ihrem Bruder Hans von der Gestapo verhaftet. In tagelangen Verhören versucht der Vernehmungsleiter Mohr (Alexander Held), die Mitwisser zu ermitteln, doch die Situation entwickelt sich zusehends zu einem Psychoduell, in dessen Verlauf sich Sophie Scholls Strategie immer wieder verändert: Zunächst kämpft sie um das Leben ihres Bruders, dann will sie mittels eines Geständnisses die Gruppe schützen und bestreitet die Existenz einer Organisation „Weiße Rose". Am Ende bleibt sie – wie Kremer in „Der neunte Tag" – ihren Überzeugungen treu und geht in den sicheren Tod.

In ihrer sehr unterschiedlichen Perspektive auf die Jugend unter dem Hakenkreuz streben die Filme Napola und Sophie Scholl zunächst filmästhetisch und dramaturgisch in entgegengesetzte Richtung, um schließlich an jenem Punkt zusammen zu führen, der die Verantwortung für entstehendes Unrecht dem Einzelnen zurückgibt: Es hilft nichts, sich hinter einem destruktiven System verstecken zu wollen, so die Moral dieser Filme. Das mag keine grundsätzlich neue filmische Perspektive auf die Epoche eröffnen, erinnert aber auf durchaus intensive Weise daran, dass gesellschaftliche Prozesse – im Guten wie im Schlechten – nicht ohne das persönliche Engagement des Individuums denkbar sind.

Hitler als Edutainment?

Das Abbild Adolf Hitlers im Film ist längst zu einem „Fetisch", geworden, selbst wenn Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers filmische Rekonstruktion der letzten Tage im Führerbunker Der Untergang explizit versucht, den „Menschen Hitler", dargestellt von dem Charaktervirtuosen Bruno Ganz, im Gegensatz zum „dämonischen Mythos" zu vermitteln. Gerade diese Idee wurde zum Ansatzpunkt der deutschen Kritik: Wozu ist die Annäherung an den „Menschen Hitler" hilfreich? Leiste sie nicht einer „Relativierung" oder gar einer „Entschuldigung" des Regimes Vorschub?

Die internationale Kritik sah in Der Untergang eher einen „kraftvollen Kriegsfilm" (Eric Hansen, Hollywood Reporter), „a powerful Goetterdammerung" (Derek Elley, "Variety"), und als solcher mag er durchaus funktionieren: Dialogszenen im Führerbunker halten sich weitgehend die Waage mit der pyrotechnisch aufwändigen Rekonstruktion der Schlacht um Berlin, in der sich ein idealistischer Arzt, verblendete Volkssturmangehörige und gegen Ende die überlebende Sekretärin Traudl Junge durchkämpfen müssen. Doch die zweifellos eigenständige Performanz des Hauptdarstellers Bruno Ganz kreiert möglicherweise eine auf sich selbst verweisende Simulation des historischen Diktators. Das erkannte auch Hitler-Biograph Ian Kershaw im britischen Guardian, dem der Film zwar gefiel, der jedoch die erklärende Kraft des Films für „notwendigerweise beschränkt" hielt.

Produzent Bernd Eichinger, der zusammen mit dem Historiker Joachim C. Fest das Drehbuch auf der Grundlage von Fests Recherchen verfasste, hatte von Anfang an geplant, die Balance zu wahren zwischen Unterhaltung und Geschichtsstunde, Kriegsdrama und akribischer Rekonstruktion. Seine Herangehensweise entspricht damit dem Fernsehformat des „Edutainment", der „unterhaltenden" oder gar „belehrenden Information". Der ZDF-„Haushistoriker" Guido Knopp hat dieses Format im historischen Kontext bereits seit mehr als einem Jahrzehnt etabliert: massenkompatible Geschichtsstunden aus dokumentarischem Filmmaterial, Kommentaren, Interviews und neu gedrehten Re-Inszenierungen der Vergangenheit. Jeff Kanew versuchte in Babij Jar, dieses Vorgehen ungebrochen auf das Spielfilmformat zu übertragen: Er drehte in Schwarz-weiß – nicht nur als Verweis auf Spielbergs Stil in Schindlers Liste -, sondern vor allem, um immer wieder historische Aufnahmen in die Montage integrieren zu können. So werden historische Opfer nationalsozialistischer Übergriffe durch einen kurzen assoziativen Zwischenschnitt zu „Flashbacks" der Protagonisten. Das ist zweifellos gut gemeint, soll dem schrecklichen Geschehen individuellen Charakter verleihen – doch letztlich ist es geschmacklos. Hirschbiegels Untergang dagegen verschleiert die Künstlichkeit der eigenen Performanz nicht. Er stellt das Spektakel auf mehreren Ebenen deutlich aus: Es funktioniert zugleich als personales Drama (die Sekretärin, die Familie Goebbels, der SS-Arzt, das verblendete BDM-Mädchen), als spektakulärer Kriegsfilm (der Endkampf um Berlin), als historische Rekonstruktion (die Gespräche und Monologe im Bunker) und als moralischer Kommentar des Geschehens (die Interview-Einspielungen Traudl Junges zu Beginn und am Ende).

Es fällt nicht leicht, angesichts der hier skizzierten filmischen Tendenzen tatsächlich von einem „neuen filmischen Diskurs" über den Nationalsozialismus zu sprechen. Die ästhetische Herangehensweise an die Thematik (Napola) – im Gegensatz zu den psychologisierten Verhörfilmen (Sophie Scholl, Der neunte Tag) – ist bereits in den Filmen der 1970er-Jahre präsent, in Die Verdammten, Der Nachtportier (1973) und Lili Marleen. Hier wie dort wurde die Re-Inszenierung des „schönen Scheins" kritisiert bzw. andererseits als „bewusstseinsschaffend" und authentisch begrüßt. Das Unbehagen des Rezipienten angesichts der symmetrischen Massenappelle, Uniformparaden und idealisiert besetzten Jungdarsteller, die in Filmen wie Napola und Der Unhold auftauchen, könnte zugleich das Unbehagen sein, sich diesem „schönen Schein" eines Terrorsystems überhaupt zu stellen, das Unbehagen, sich vorzustellen, wie viele Menschen einst diesem System zugetan waren und jenen Impuls lebten, den uns Abel Tiffauges in der eingangs zitierten Sequenz vorführt. Es wird also nach einem perspektivischen Bruch in der Re-Inszenierung verlangt. Das Dritte Reich so zu zeigen, wie es sich selbst gerne sah – und wie es vor allem Leni Riefenstahl ins Bild bannte -, erscheint als der reichlich naive Blick des Toren Tiffauges, des Unholds. Wer möchte schon einen naiven Blick auf das verheerendste System des 20. Jahrhunderts richten? Ob künftige Produktionen diesen künstlerisch bewussten und nicht-naiven Blick finden werden?

Marcus Stiglegger
© VdFk 2005

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