1915-1895 – Die Zeit der wiedererlangten Unschuld

»Die Zukunft des Kinos« (Teil 6)

Patrick Holzapfels Text ist der sechste Essay des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2016 im Rahmen seines Stipendiums. Er wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht.

 

Über Euphorie und Potenziale im Kino

In seiner sechsteiligen Essay-Reihe zur Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. Im abschließenden Teil geht es nun um die Anfänge des Kinos, in das man in den frühen Tagen mehr oder weniger zufällig von der Straße hineinstolperte und es als ein „kleines Wunder des Alltags“ erlebte. Das frühe Kino wurde nicht umsonst als Kino der Attraktionen beschrieben und ist bis heute auch ein Kino des Staunens. So ist dieser letzte Text der Reihe zur Zukunft des Kinos vor allem auch das Plädoyer für eine verlorengegangene Euphorie.

„Ich will einen Fluss… einen nebligen, nebligen Fluss. Einen Fluss der Träume. Die Themse, wie sie Whistler oder vielleicht Turner gemalt hätten. Es muss nur ein realer Fluss sein, verstehst du? Ein realer Fluss, der endlos fließt, der das Schicksal mit sich trägt, das nie endende Schicksal des Lebens in seiner Strömung. Ich muss diesen Strom sehen, den stummen Strom der Zeit und des Schicksals mit all den Mysterien einer unvorhersehbaren Zukunft, die man dort sehen und doch nicht sehen kann.“ (D.W. Griffith und seine Wünsche für eine Einstellung in seinem Film „Broken Blossoms“, 1919)

Frei nach Maurice Blanchot könnte man für die Zukunft des Kinos formulieren, dass sie am lebendigsten sein könne, wenn sie das Kino als ein Potenzial begreift. Wenn das Kino wieder eine Frage würde. Die größten Fragen stellte sich das Kino in seinen Geburtsjahren. Damit sind sowohl die tatsächlichen Anfänge einer ästhetischen und ökonomischen Kulturpraxis rund um die erste öffentliche Vorführung in Paris 1895 gemeint als auch die theoretische Bewusstwerdung solch einer Praxis, die vor allem in den 1920er-Jahren deutlich an Schub gewann. Das Kino definierte sich als Begegnung mit einer Welt.

Spricht man heute mit Filmschaffenden oder Filmtheoretikern, bekommt man den Eindruck, dass das Kino vollständig erfasst wurde. Lange schon gibt es in der Filmtheorie den Diskurs über das eigene Ende. Entwicklungen gibt es praktisch nur mehr in technischer Hinsicht, und diese werden in der Regel sehr skeptisch betrachtet. Aber sind wirklich alle Fragen beantwortet? Sind wirklich alle Potenziale erschöpft? Dieser letzte Text der Reihe zur Zukunft des Kinos ist auch als Plädoyer für eine verlorengegangene Euphorie zu verstehen.

„Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung aus dem Leben genommen.“

Einer jener Aspekte der frühen Arbeit mit dem Kino, über die heute kaum mehr gesprochen wird, ist das Verhältnis der Filmbilder zur Realität. Begriffe wie „Objektivität“ oder „Realität“ werden heute mit wissendem Kopfschütteln abgewehrt. Es seien veraltete Theorien. In der Tat sind diese Konzepte von ihrer Unmöglichkeit geprägt. Was aber oft übersehen wird, ist, dass diese Unmöglichkeit schon in das frühe Filmschaffen und in frühe Filmtheorien eingeschrieben war. Das Eingangszitat von D.W. Griffith erzählt von der Unsicherheit darüber, was „real“ ist, und bereits eine der ersten Reaktionen auf den Lumière-Kinematografen in „La Poste“ las sich wie folgt: „Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung aus dem Leben genommen.“

An die Utopie wird also gleich eine Relativierung gehängt. Diese „aus dem Leben genommene“ Bewegung ist es, die spätestens mit Christian Metz und seiner Aussage „In mancher Hinsicht ist das ganze Kino ein Spezialeffekt“ in eine zynische Unglaubwürdigkeit transportiert wurde. Der Filmemacher und Theoretiker Jean Epstein, einer der größten Euphoriker der Filmgeschichte, beschrieb diese verlorene Unschuld einmal anhand der „verhexten“ Autoreifen im Kino. Kinder würden sehen, dass sich Autoreifen auf der Leinwand nicht bewegten. Das würde ein Misstrauen gegenüber den Kinobildern auslösen. Wenn sie sich an ihre Eltern wenden würden, wüssten diese oft keine Antwort, und somit könnte sich ein Zweifel an der Wirkkraft des Kinematografen etablieren, der nicht mehr aus den Köpfen ginge. Das Kino ist eben entweder die Wahrheit 24-mal in der Sekunde oder wie Brian De Palma das Godard-Diktum wendete, eine Lüge 24-mal in der Sekunde. Im digitalen Zeitalter hat sich selbst das mit den Bildern pro Sekunde als deutlich variabler offenbart.

Das frühe Kino als ein „kleines Wunder des Alltags“

Eine Verbindung zur Realität gibt es dennoch. Man kann von einer Zeugenschaft sprechen. Solange es Bewegung auf der Welt gibt, kann das Kino diese Bewegung aus dem Leben nehmen und hin zu einer Wahrheit oder einer Lüge führen, je nach Bedarf. Daran hat sich auch im digitalen Zeitalter nichts verändert, weil es im Analogen wie im Digitalen eine Illusion ist, die uns eine Realität näher bringt. Auf der einen Seite eine optische, auf der anderen Seite eine mathematische Illusion. Im Jahr 2016 gab es im Grand Palais in Paris eine große Ausstellung zum Werk der Gebrüder Lumière. Dort wurde unter anderem vorgeschlagen, dass zeitgenössische Webcam-Bilder ähnlich arbeiten wie die ersten Filme aus dem Hause Lumière, als Kameramänner um den ganzen Globus geschickt wurden und mit Aufnahmen zurückkamen. Eine gewagte These, gegen die man sicherlich einiges einwenden kann. Vor allem aber liegt der Unterschied in der Rezeption.

Denn gerade die ersten Jahre des Kinos waren vom Teilen eines Phänomens geprägt. Dem Betrachten der Bewegung selbst. Glaubt man den Berichten, war das Kino der frühen Tage etwas, in das man mehr oder weniger zufällig von der Straße hineinstolperte. Ein kleines Wunder des Alltags. Man lugte durch den Vorhang und sah plötzlich das Bild einer Bewegung, das wirkte, als wäre es selbst bewegt. Dabei galt die Aufmerksamkeit oft der Bewegung selbst. Gerade die Stadtansichten bei Lumière zeigen, dass man nur schwer eine Erzählung oder eine determinierte Bewegung festmachen kann. Vielmehr wird dem Blick erlaubt zu wandern und gemeinsam zu entdecken. Diese Streuung des Blicks zeigt, dass es nicht nur darum gehen kann, was wir sehen, sondern auch, wie wir es sehen. An diesem „Wie“ entzünden sich brennende Fragen des Kinos. Es ist ein Sehen, das selbst wenn man heute mit den Filmen konfrontiert wird, ganz anders funktioniert als jene Geschichten des Kinos, die daraufhin folgten. Keine Betrachtung, sondern eine geteilte Erfahrung. Der Zuseher wird eingeladen zu sehen. Dieser kurze Augenblick einer gemeinsamen Sensation erlaubte Träume.

Und wohin führten diese Träume? Überwachung, Kriegsführung, Industrie, Begehren, Narration, Identifikation und Repräsentation sind Begriffe, die sich seither als dominant und in vielerlei Hinsicht schlüssiger offenbart haben, als die Frage nach dem Verhältnis zu einem Realen, vielleicht sogar die Konstitution einer anderen, möglichen Realität. Man kann sich dem Problem auch umgekehrt nähern: Wenn es so sicher ist, dass die Art und Weise, in der das Kino arbeitet, nichts mit Wahrheit oder Realität zu tun hat, warum wird dann auf breiter Front so sehr auf Naturalismus in der Darstellung gesetzt? Warum setzen sich etwa artifiziellere Schauspielstile wie bei Straub/Huillet oder bei Manoel De Oliveira nicht durch? Wenn man theoretisch weiß, dass das Kino ein Bastard ist, eine Synthese unterschiedlichster Elemente, warum wird dann in der Arbeit immer noch nach Reinheit oder im schlimmsten Fall Authentizität gesucht? Könnte es sein, dass diese Fragen, die man so leicht abtun kann, noch gar nicht beantwortet sind? Um eine letzte Frage zu stellen: Wenn wir einen Film sehen, haben wir es dann mit roher Phänomenologie zu tun, mit Abstrahierungen oder mit einer Wahrheit/Lüge, die sich aus beidem zusammensetzt?

Das Kino der letzten Jahre hat immer dann Antworten auf diese Fragen gefunden, wenn es gezweifelt und sich auch selbst bezweifelt hat. Man denkt an Abbas Kiarostami, der in seinen Filmen die Frage nach der Illusion gestellt hat. In Filmen wie „Close-Up“ (1990) oder „Quer durch den Olivenhain“ (1994) hat er die Illusion genau dadurch ermöglicht, dass er sie offengelegt und angezweifelt hat. Gerade weil dem Zuseher gesagt wird, dass alles nur eine konstruierte Fiktion ist, beginnt er, wieder daran zu glauben. Jacques Rancière schrieb einmal, dass ein Bild nie von sich selbst sagen würde, ob es tatsächlich sei, eine Erinnerung oder eine Halluzination. In Zeiten von manipulierten Bildern und extremer Bildpropaganda stellen sich diese Fragen und ihre Vermittlung wieder sehr dringend für das Kino.

Man spürt, dass das Kino sich seines eigenen Ursprungs, ja seiner Essenz beraubt.

Ein anderes Beispiel für ein Neudenken des alten Problems des Kinos zwischen Wahrheit und Illusion schlug der Argentinier Lisandro Alonso mit seinem Debüt „La libertad“ (2001) vor. Der Film folgt einem jungen Mann bei seinem täglichen Leben im Dschungel. Es ist eine Fiktion und eine Dokumentation zugleich. Vor allem kehrt Alonso das „Make-Believe“-Prinzip des Naturalismus um. Der Film will gar nicht, dass man ihm glaubt. Man wüsste nicht mal, was man glauben soll. Er will einfach nur sein. Diese Filme führen zu einer Essenz des Kinos. Nur im Diskurs, der für eine mögliche Euphorie, für ein Offenlegen einer Zukunft zuständig wäre, ist kein großer Platz für Fragen der Essenz. Das sieht man allein schon daran, wie wenig Platz in Kinematheken (vom Fernsehen muss man nicht anfangen zu schreiben) für Stummfilm existiert. Der Blick so weit zurück wird Historikern und einigen Cinephilen vorbehalten.

Wie sehr in Stummfilmen ein Umgang mit Bildern dargestellt wird, der sehr viel mit dem modernen Bildkonsum zu tun hat und aus dem nicht nur das Kino sehr viel über Haltung, Blickstrukturen oder menschliches Zusammensein lernen könnte, wird oft ignoriert. Betrachtet man dann noch, wie halbherzig nicht nur in Deutschland mit Restaurierungsfragen umgegangen wird, dann spürt man, dass das Kino sich seines eigenen Ursprungs, ja seiner Essenz beraubt. Eine fatale Bewegung hin zu einer Ohnmacht der Sprache des Kinos. Das Kino ist in einem Warenhaus gefangen, das immer wieder verlauten lässt, dass das seine Realität ist und dass das seine Beziehung zur äußeren Welt prägt. Es ist nun mal so, dass das Kino eine Industrie ist, an der viele Menschen hängen, die bezahlt werden sollten.

Es wäre nun naiv zu glauben, dass man einfach wieder in eine Unschuld springen könne. Ein großer Schritt wäre aber getan, wenn die intellektuelle Feststellung, dass man nicht einfach nur filmen kann, was da ist, nicht dazu führt, dass man die Frage danach nicht mehr stellt. Denn seit jeher hat sie das Kino angetrieben. Der Traum von der Unschuld muss erlaubt und nicht im Keim erstickt werden. Das frühe Kino wurde nicht umsonst als Kino der Attraktionen beschrieben. Es war und ist bis heute auch ein Kino des Staunens. Aus den weit aufgerissenen Augen, irgendwo zwischen Aufmerksamkeit und Ablenkung ist dann ein Diskurs entstanden. In Frankreich sind große Intellektuelle wie Apollinaire, Picasso, Colette, Cocteau oder Breton ins Kino gegangen. Diese Positionen und ihr Dialog mit dem Kino waren von höchster Wichtigkeit. Es ist ein Dialog, der deshalb möglich war, weil das Kino auf die Zukunft verwies. Es gab da eine andere Art der Wahrnehmung der Welt, und man musste darüber diskutieren.

Kino als Sprache, Form des Sehens und Denkens sowie als Erinnerung

Vergleicht man das mit den heutigen Reaktionen auf Virtual Reality, fallen zwei Aspekte auf. Zum einen geht es beständig um Abgrenzung. Das ist insofern gut, weil es wieder ein Nachdenken über die Essenz des Kinematografen erlaubt. Es ist schlecht, weil es eine „neue“ Art des Sehens nicht über ihr (eng an Entwicklungen des Kinos laufendes) Verhältnis zur Welt definiert, sondern über andere Modi des Sehens. Zum anderen gibt es einen Diskurs über Erneuerung. Es geht nicht darum, was sich ändert, sondern dass etwas „Neues“ kommt. Als wären Strategien der Bildwerdung Waschmaschinen. Selbiges kann man auch in deutlich kleinerem Ausmaß bei den Advokaten der Video-Essays beobachten, die diese beständig als eine „neue“ Form der Filmkritik bezeichnen. Wenn man an die Kameraindustrie, die Projektionsindustrie oder die Heimkinoindustrie denkt, kann man vor lauter „neu“ bald nicht mehr denken. Man kauft nur noch. Diese Unfähigkeit zu einer anderen Begegnung mit technologischer Entwicklung gibt Guy Debord Recht, der schrieb, dass man selbst kommuniziert werden müsse, um neue Formen der Kommunikation zu betreten. Inzwischen sind alle Konsumenten von Bildern selbst zu Bildern geworden. Das Kino jedoch hätte, wenn man es denn ließe, das Potenzial, diese Bilder in den Hintergrund rücken zu lassen.

Noch mehr müssten diese anderen Formen der Kommunikation eine Frage an die bisher bestehende Form stellen und in einen gemeinsamen Dialog treten. Das Wort „neu“ wirkt im Kino immer wie eine Lüge, denn jeder Film ist bei jeder Projektion in der Gegenwart, er kann immer wieder neu sein. Filme sind flüchtig, sie arbeiten immer hin zu ihrer eigenen Unvollkommenheit. Nicht, was wir in ihnen festmachen können, bewegt sie, sondern genau das, was sich uns daran entzieht. Zum Beispiel das, was zwischen zwei Bildern passiert. Dieselbe Aktualität und Flüchtigkeit gilt für jeden Text über diesen Film. Kann man also die Frage stellen: Inwiefern bildet Film die Realität ab? Inwiefern ist dieser oder jener Film objektiv? Man muss sie sogar stellen, denn nur dann hat das Kino eine Zukunft als Sprache, Form des Sehens und Denkens sowie als Erinnerung.

Patrick Holzapfel
FILMDIENST 22/2017, 26.10.2017

Foto: Szenenbild aus „Broken Blossoms“ (1919)