Chevalier

Sven von Redens Text zu Athina Rachel Tsangaris Chevalier ist die achte von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

„Chevalier“

Sven von Reden

Mit dem treffenden Widerspruch „A buddy movie without the buddies“ werben die  Filmplakate für „Chevalier“. Athina Rachel Tsangaris lang erwarteter Nachfolger von „Attenberg“ (2010) ist tatsächlich in mehrfacher Hinsicht eine Art Anti-Kumpel-Film, der die Konventionen des Genres auf den Kopf stellt.

Die Grundsituation ist schnell beschrieben: Eine Gruppe von sechs Männern macht Urlaub auf einer Luxusjacht. Tagsüber fischen und tauchen sie in der Ägäis, abends vertreiben sie sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Männer deutlich: Das Spektrum reicht vom ungefähr dreißigjährigen pummeligen Muttersöhnchen Dimitris über den mittelalten Schönling Christos (gespielt vom zweifachen Eurovisions-Sänger Sakis Rouvas) bis zum kurz vor seiner Pensionierung stehenden, von allen nur „Doktor“ genannten Jachtbesitzer.
Im Buddy-Movie amerikanischer Prägung entsteht die Komik gerade aus solchen Unterschieden. Aber im Laufe der Geschichte wächst der Respekt der Männer voreinander, und am Ende steht eine unverbrüchliche Freundschaft. Tsangari geht in ihrem Film, den sie zusammen mit Efthimis Filippou geschrieben hat, den umgekehrten Weg: Die Männergruppe entwickelt sich im Verlauf der Handlung immer weiter auseinander. Konflikte verschärfen sich bis hin zu physischer Gewalt.

Der Auslöser dafür ist ein Spiel, dass die sechs eines Abends aus Langeweile beginnen. Eigentlich ist es eher ein Wettbewerb: Sie wollen ermitteln, wer der Beste von ihnen ist. Nicht in irgendeiner Disziplin, sondern in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Die sechs Männer laufen fortan mit kleinen Notizbüchern über das Schiff und bewerten alles an ihren Mitreisenden: wie sie schlafen, wie sie sich kleiden, wie ihre Blutwerte sind, wie schnell sie ein Ikea-Regal aufbauen können, wie ihr Verhältnis zu ihren Partnerinnen ist – und natürlich wie groß ihre erigierten Glieder sind. Der ganze Trip wird gewissermaßen zu einem fortwährenden Schwanzvergleich. Der Preis für den Sieger, ein Siegelring, ist letztlich unbedeutend, es geht nur darum, „der Beste“ zu sein. Absurd scheint dieser Wettkampf niemand vorzukommen.
Eine Qualität von „Chevalier“ liegt darin, wie reich die allegorischen Möglichkeiten des „Spiels“ im Zentrum des Films sind. Er lässt sich zum Beispiel lesen als Verhöhnung des immer stärker um sich greifenden „self tracking“, das es erlaubt mit Hilfe von Apps und Smartphone sein gesamtes Leben zu vermessen und zu vergleichen: von den täglich zurückgelegten Schritten über die gegessenen Kalorien bis zur Schlafqualität. In einem umfassenderen Sinne erinnert das Spiel auch an den postmodernen Kapitalismus, der nicht mehr nur die Arbeitskraft des Menschen will, sondern ihn immer stärker versucht, komplett zu vereinnahmen und zu bewerten: seine „hard skills“ und seine „soft skills“, seine sozialen Fähigkeiten, seine Leidenschaften, seine Träume. Eine Entwicklung, die in aktuellen TV-Unterhaltungsformaten wie „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ ihre Parallele findet. Auch hier geht es um die totale Begutachtung des gesamten Menschen in teilweise erniedrigender Form.
Natürlich liegt auch eine feministische Lesart von „Chevalier“ nahe: Das Spiel bringt die unangenehmsten Seiten männlichen Geltungsdrangs und Wettbewerbseifers zum Vorschein. Dabei merken die Jachturlauber gar nicht, wie ihr unbedingter Wille zum Sieg sie ironischerweise Erwartungen an Geschlechter-Identitäten unterlaufen lässt: Während die sechs zu Beginn lediglich die Größe ihrer harpunierten Fische vergleichen, wetteifern sie während des Spiels auch darum, wer am besten putzt, wer die tollsten Kochrezepte kennt oder die beste Figur hat.
Mit der Neugier einer Wissenschaftlerin beobachtet Tsangaris, wie ihre Versuchsmännchen auf engstem Raum miteinander reagieren. Wie für eine Wissenschaftlerin üblich zeigt sie dabei wenig Empathie, aber dafür viel Humor: Einer der Höhepunkte ist etwa eine Sequenz, in der ein Blutbrüderschaftsritual eine ziemlich absurde Wendung nimmt. Auch hier ist „Chevalier“ eine Buddy-Film-Parodie. Er macht sich genau darüber lustig, wo in diesem Genre gewöhnlich der Humor aufhört: beim „male bonding“.

Werden im Buddy Movie häufig auch klassenübergreifende „Partnerschaften“ geschlossen, so gehören in „Chevalier“alle Protagonisten – die drei Mann Schiffsbesatzung ausgenommen – der gleichen begüterten Schicht an. Nach der Weltpremiere des Filmes letztes Jahr im Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno wurde er daher als satirischer Angriff auf die Elite Griechenlands interpretiert. Aber Tsangari ist schlau genug, die allegorische Kraft ihres Films nicht in irgendeine Richtung festzulegen und damit zu beschneiden.
„Chevalier“ wirkt zugleich ein Pendant und eine Antithese zum Locarno-Gewinner ihres Landsmanns Nikos Panayotopoulos aus dem Jahr 1978, „I Tembelides Tis Eforis Kiladas“ („The Idlers of the Fertile Valley“), in dem ein Witwer eine abgeschiedene Villa erbt und dort mit seinen drei Söhnen einzieht. Um finanzielle Dinge müssen sich die Männer nicht mehr kümmern, aus Langeweile denken sie sich in ihrer Idylle kein Spiel aus, sondern sie beginnen einen unausgesprochenen Wettbewerb, und zwar darum, wer am längsten schlafen kann. Und so liegt bald eine Dornröschen-Ruhe über dem Anwesen, auf dem nur noch die Bediensteten wach sind. „Chevalier“ hat auch Ähnlichkeiten mit Marco Ferreris „Das große Fressen“ (1973), in dem sich eine Gruppe begüterter Männer trifft, um herauszufinden, wer sich als erster totfressen kann. Tsangari legt es jedoch nicht auf einen Skandal an, ihre Satire trägt weniger dick auf.

Auch im Vergleich zu „Attenberg“ bleibt sie näher an der Realität, was schade ist, eine zweite Ebene, wie etwa die Performance/Tanz-Sequenzen aus „Attenberg“, oder eine stärkere Zuspitzung hätten dem Film nicht geschadet. „The Lobster“, der aktuelle Film ihres griechischen Mitstreiters Yorgos Lanthimos, mit dem sie sich Ko-Autor Filippou teilt, treibt seine ähnlich gelungene Allegorie in unvorhersehbarere Richtungen. Leider wird ein direkter Vergleich im Kino nicht möglich sein: Sony wird diesen Film in Deutschland nicht ins Kino bringen.