Watchtower

Nino Klingler

Überwachen und Beschützen: Pelin Esmer kreuzt Foucault und Melodrama.

Einsam sitzen sie, weit entfernt voneinander, in ihren Türmchen,
hoch oben auf den Hügelzinnen, und wachen über den Wald. „Normal. Alles
normal.“ Es flirren die Radiostimmen durchs Grün, von einer männlichen
Insel zum Rest. Wieder kein Feuer.

Im Aquarium auf dem Berg

Watchtower ist ein Film, der um eine mächtige,
bedeutungsfreudige Metapher herum gebaut ist. Gedankliche Verschiebungen
in allerlei Richtungen sind da möglich, aber – und das ist wunderbar am
Kino – das eigentliche Bild bleibt zugleich ganz und gar konkret, die
zentrale Situation ist ein schlichtes Faktum in der wirklichen wie der
erzählten Welt. Nihat (Olgun ?im?ek) steigt zu einem Wachturm im
bergigen Nationalpark empor. Dass er viele dunkle Erinnerungen mit sich
schleppt, merkt man seinen dicht geschlossenen Gesichtszügen, den nach
innen gesenkten Schultern, seinen nur vereinzelt gestreuten Wortbrocken
an. Er wird dort oben als Parkwächter arbeiten, wie einige andere
Männer, die sich nur zum alltäglichen Statusbericht als körperlose,
lethargische Stimmen im Funknetz begegnen. Eine amorphe Gemeinschaft der
versprengten, gezeichneten, aus ihrer chaotischen Seele in die leere
Natur blickenden Augenpaare. Ein anonymer männlicher Blick liegt über
allem hier. 

Das Gebäude des Turmes selbst ist ein widersprüchliches, weil
transparentes Panoptikum: Vierseitig durch vorhanglose Fensterfronten
jedem Blick geöffnet, kann Nihat umgekehrt weit in die umliegenden Täler
schauen. So sieht er die ruhenden Bäume überall, sieht den still die
Serpentinen empor schlingernden Reisebus, in dem Seher (Nilay Erdönmez)
als Stewardess arbeitet. Sie ist eigentlich die Hauptfigur von Watchtower,
aber wir lassen sie noch einmal kurz alleine und kehren in den Turm
zurück. Ein Kreisschwenk aus dem Innern erschließt gleich zu Beginn die
ganzen 360 Grad Einsamkeit um ihn herum, doch folgt die Kamera dabei
Nihat, wie der den Balkon abschreitet: der überwachte Wachmann.

Regisseurin und Autorin Pelin Esmer spielt zu Beginn virtuos,
aber ohne Schaustellerei mit den ewigen filmischen Themen des
Blickens/Angeblicktwerdens und den darin angelegten Geschlechterrollen
(klassischerweise: Voyeure vs. Exhibitionistinnen). Ganz subtil
verunsichert die Montage dabei klare geometrische Gefüge und kündet
damit gleich an, dass altbekannte Verhältnisse hier infrage gestellt
werden.

Unterwegs durch ein paranoides Land

In der heutigen Türkei existiert ein jede materielle Schutzfunktion
übersteigender Wahn zur Bewachung und Kontrolle. Jedes noch so
abgelegene Gelände, jede Baugrube, jede verfallende Fabrikruine wird von
einem bekçi – einem Wachmann – behütet. Meist sind das
ungelernte Arbeiter, die sich die Nächte um die Ohren schlagen müssen,
um (auf was eigentlich?) aufzupassen. Dieser allgegenwärtige Berufszweig
verrät eine Alltagsparanoia, die wiederum einiges damit gemein hat, wie
viele türkische Männer noch immer mit Frauen umgehen: kontrollieren,
bewachen, im schlimmsten Falle wegsperren. So kreuzen sich hier
filmische und soziale Diskurse.

Auftritt Seher, die einer – ähnlich wie Nihat lange Zeit nur
spürbaren, nicht aufgedeckten – traumatischen Vergangenheit entflohen
ist und sich als einsame Frau zwischen bärtigen und groben Männern
herumtreibt. In der harschen Hügelgegend zwischen Zentralanatolien und
Schwarzmeerküste fährt sie mit dem Bus hin und her, während Nihat von
oben zuschaut: Bewegung und Stillstand, waagerecht und senkrecht, auch
diese grundsätzlichen Filmdimensionen werden von Esmer sehr prominent
bearbeitet.

Mitfühlende Härte

Nilay Erdönmez interpretiert Seher als eine furchteinflößend
pragmatische Frau, die zum Opfer wurde, sich aber weigert, die
Opferrolle zu spielen. So lange die Zuschauer noch nicht wissen, was
genau sich ereignet hat, so lange allein dieses nüchtern-tatkräftige
Schauspiel in Verbindung mit Esmers an Yilmaz Güney und Lütfi O. Akad
geschulten unsentimentalen Bildern eine von Narben zerfurchten Gegenwart
entstehen lässt, bleibt Watchtower ein ungemein
stimmungsvoller, weil ganz aus dem Augenblick heraus vieldeutiger Film.
Sehr schade ist daher, dass Esmer im zweiten Drittel mit dem
Ausbuchstabieren anfängt und im letzten dann ihre düsteren Andeuteleien
durch sprachlastiges Melodrama ersetzt. 

Und doch besticht die sehr eigene Weise, mit der Watchtower
Themen klassischer arabesker Rührstücke – Vergewaltigung, Heimatflucht,
Unfallschuld – auf sehr eigene Weise interpretiert. Zum einen, weil
Esmers Regie die Stringenz des (starken) jüngeren türkischen Kinos
aufweist, aber den dort beizeiten aufschimmernden Zug ins Formalistische
unterbindet. Sie bleibt stets ihren Figuren verpflichtet, liefert diese
starren Tableaus aus, wenn sie in der Welt gefangen scheinen, aber
lässt die Steadycam auch gleiten, wenn sie sich ihre eigenen Wege durch
diese Welt bahnen. Ansonsten sind es Erdönmez und der bislang eher aus
Komödien bekannte Simsek, die den Film tragen. Simsek hat ein verrücktes
Timing für kleinste mimische Züge, die immer wieder verwirrend weiche
Ansichten in sein nur auf den ersten Blick alltägliches
Schnurrbartgesicht malen.

Somebody is watching (over) you

Vor allem aber ist stark, wie der Film seine Geschichten
beständig um die zentrale Metapher des Sehens/Wegschauens gruppiert.
Allmählich wird klar, dass eine Gesellschaft sich auch als ein mit
blinden Flecken durchsetztes Sichtfeld denken lässt, bei dem manche
Aspekte (zum Beispiel wo sich eine Frau wie gekleidet wann bewegt) sehr
genau observiert, andere (ein anschwellender Bauch, ein urplötzlicher
Wegzug) gerne übersehen werden.

Gut auch, dass Watchtower letztlich zu keiner plakativ
emanzipatorischen Männerverteufelung wird, dass er seine Metaphern stark
macht, aber nicht wertend einteilt. Esmer eröffnet Räume zum
Nachdenken, ohne sie zu erschließen. Und bei jedem der gestreiften
Themen, wie hart sie auch scheinen mögen, deutet der Film eine utopische
Lösung an. Um damit zum zentralen Motiv des Filmes zurückzukehren:
Seher wird ungefähr in der Filmmitte etwas eigentlich Unentschuldbares
tun. Und dennoch öffnet sich für sie eine Möglichkeit, gerettet zu
werden; weil in Gestalt von Nihal jemand da ist, der sie beobachtet, der
etwas sieht, was niemand sonst sieht. Vielleicht, weil sich die
Traumatisierten erkennen. Aber so oder so: Der männliche, überwachende
Blick, er muss nicht des Teufels sein, wenn er nur genauso scharf nach
innen wie nach außen gerichtet ist. Wie gut es manchmal ist, wenn jemand
aufpasst.

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 17.03.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.