In Sarmatien

Die vorgestellte Gemeinschaft: Volker Koepp kann besser Karten zeichnen als die Geschichte.

Nino Klingler

Die „Nation“ ist ein biestiger Begriff. Für viel Unheil wird das Konzept
und vor allem der dazugehörige, weltanschaulich ausgeweitete -ismus
verantwortlich gemacht: Weltkriege, Pogrome, wirtschaftliche
Ungleichheit. Und doch kehrt das in europäischen Landen vertrieben
geglaubte Gespenst des Nationalismus, jenes von territorialen und
kulturellen Grenzen eingefriedeten Alleinstellungsdenkens, gerade
machtvoll zurück. Es scheint daher angebracht, noch einmal
vorurteilsfrei an das irrigerweise als gestrig verschriene Konzept
heranzugehen, und Volker Koepps IN SARMATIEN bietet dafür eine
hervorragende Gelegenheit.

Liebevoll von außen betrachtet

Sarmatien, so nannten die Griechen und Römer ein Gebiet zwischen
Schwarzem Meer und Ostsee, auf dem sich heute die Staaten Moldawien,
Ukraine, Weißrussland und Litauen verteilen. Es ist also ein Blick von
außerhalb, den sich Koepp zu eigen macht, wenn er statt der aktuellen
Landesnamen einen antiken verwendet. Zugleich ist dieses Umtaufen eine
kreative Geste: Vielleicht gibt es über die in jahrhundertelangem
Machtgeschacher (mit den Eckpfeilern Hitler-Stalin-Pakt und
Blockbildung) immer wieder neu gezogenen Grenzen hinaus eine kulturelle,
eine historische Gemeinschaft der Menschen dort? Vielleicht gibt es
jenseits der Nationen so etwas wie eine sarmatische Mentalität? Koepp
könnte es wissen, hat der Dokumentarfilmer doch einen beträchtlichen
Teil seines anteilnehmenden und geduldig betrachtenden Werkes in genau
diesen Gegenden gedreht. Insofern ist IN SARMATIEN der Reisebericht aus
dem imaginären Land seiner eigenen filmischen Biografie.

Da, wo seine (meist weiblichen, jüngeren, hübschen)
Gesprächspartnerinnen von der zerrissenen ukrainischen Seele, der
Verlorenheit Königsbergs, dem weißrussischen Joch berichten, wo sie das
wahre Zentrum Europas mal in den moldawischen Hochebenen, mal in den
Karpaten ausmachen wollen, da spannt Koepps Panorama der Standpunkte
eine weitere Gemeinschaft derjenigen auf, die zerrissen, vertrieben,
getrennt wurden. Wenn Nationen, wie der Politikwissenschaftler Benedict
Anderson behauptet, imagined communities sind, vorgestellte
Gemeinschaften also, dann stellt sich Koepp im Vergleich zu den engen
und stets umstrittenen Grenzen der politischen Karte eine andere, eine
weitere, weichere Gemeinschaft vor.

Das negative Fortbestehen jüdischen Lebens

I SARMATIEN bietet einen guten Einstieg in das Schaffen Koepps,
kartografiert er doch die Geschichte jenes Landes, das es nicht gibt,
mit Einspielungen einiger Szenen seiner alten Filme. Die
Protagonistinnen sind alte Bekannte der damaligen Drehs,
Übersetzerinnen, Kolleginnen, Darstellerinnen. Sie alle sprechen Deutsch
– manche von Kindesbeinen an, andere wegen der Schule, wieder andere
mussten Arbeit im Westen suchen. Aber der Klang dieser Sprache in den
alten Siedlungsgebieten zwischen Galizien, Bessarabien und Ostpreußen
deutet eine weitere, historisch allmählich verblassende
Verteilungsordnung an: die fortbestehende deutsche Sprachgemeinschaft
dort, wo der Nationalsozialismus am schlimmsten wütete. Diese Geste ist
bei Koepp aber nicht einmal ansatzweise revisionistisch. IN SARMATIEN
sehnt sich nicht nach den verlorenen Ostgebieten zurück, sondern webt
nur eine weitere verwirrende Faser in diese geschichtlich heimgesuchten
Gegenden.

Doch wenn es einmal eine Gruppe gab, die sich vollwertig „Bürger
Sarmatiens“ hätte nennen können, dann waren es die Juden. Immer wieder
hat Koepp dem Schicksal der Aschkenasim nachgeforscht, immer wieder
kommt sein Film auf das nahezu ausgelöschte jüdische Leben im ehemaligen
russischen Ansiedlungsrayon zurück. Die Übriggebliebenen, die er in
seinen vergangenen Filmen porträtiert hatte – das Duo aus HERR ZWILLING
UND FRAU ZUCKERMANN (1999), das Ehepaar aus KALTE HEIMAT (1995) –, sind
mittlerweile tot, weshalb Trauer und Melancholie in jede Einstellung,
jedes Gespräch dieses Filmes verwebt sind wie unsichtbare Fäden, die die
Menschen und ihre Empfindungswelten geheimnisvoll miteinander
vernetzen. Das absente jüdische Erbe, vielleicht ist das der
gemeinschaftsstiftende Faktor der imagined community Sarmatiens.

Doch es gibt noch Widerstände, es gibt auch ein jüdisches Weiterleben:
In einer unvergesslichen Sequenz mischt sich Koepps Kamera unter
Tausende Chassidim, die lautstark betend das jüdische Neujahrsfest
begehen, und zwar in Uman, in der heutigen Ukraine. Keine Frauen sind
erlaubt, wenn Orthodoxe aus aller Welt wieder Hebräisch sprechen in
jenen Gegenden, die ihre kulturellen wie ästhetischen Wurzeln bewahren.
Und dann erkennt man plötzlich den runden Fellhut eines Gläubigen auf
dem Kopf einer alten Frau in einem Bummelzug wieder, sieht die religiös
motivierte Tracht und die landestypische Mode auf einmal in einem
geteilten Universum.

Chronos, der Fluss

Koepps Interviewstil ist ebenso unauf- wie uneindringlich, er gibt
seinen Figuren Freiheiten, lässt sie abschweifen, schweigen, auch
scheinbar Belangloses erzählen. Sein visueller Stil ist auf eine der
Fernsehreportage verbundene Art heimelig, manchmal motivisch fast wie
für Postkarten gemacht. Aber diese Ästhetik stört nicht, sondern wirkt
angenehm bescheiden. Mit subtilen Entscheidungen stellt Koepp dabei
sicher, dass IN SARMATIEN nicht mit einer x-beliebigen RBB-Doku zu
verwechseln ist: Dafür sind die Aussagen zu wenig Statements, dafür ist
die Kamera zu geduldig, dafür konkretisiert sich die Motivation des
Filmes zu wenig. Es ist verwirrend, wie metaphorisch stark diese simplen
Mittel mit zunehmender Dauer werden können, wenn irgendwann die
Frauengesichter mit den hinter ihnen liegenden Landschaften zu
verschmelzen beginnen, wenn Berichte von Familientrennungen und der
Hoffnung auf Wiedervereinigungen plötzlich aus den Tälern und Hügeln
emporklingende Aussagen der Ländereien selbst zu werden scheinen.

Das visuelle Leitmotiv des Filmes bilden Aufnahmen von Flüssen:
Weichsel, Donez und immer wieder die Memel. Bilder von Flüssen als
Bilder der Zeit, der natürlich verlaufenden Zeit, die sich ihre
Landschaften schafft und die die wechselhaften historischen Zeitläufte
der Menschen gleichmütig unterspült. Am Ende des Filmes ist Koepp in
Königsberg, der verlorensten aller Städte hier. Durch die russische
Exklave strömt der Pregel, ein Fluss, den die Griechen Chronos genannt
hatten, wie den Gott der Zeit.

Für Koepp scheint die Frage nach der Nation letztlich eine Frage der
Zeit zu sein. Aber nicht irgendeiner Zeit, sondern der gemeinsam
durchlebten Vergangenheit. Die Menschen in seinem Sarmatien verbindet,
was sie trennt: die Erfahrung unablässiger Um- und Neuverteilungen von
Macht und Gebiet. Ihre Nationen sind die provisorischen Pflaster auf
einem wundübersäten historischen Körper, ihre Nationalismen sind
geschrieben im Zweiten Konjunktiv: Die Länder, die hätten gewesen sein
sollen. Und Koepp hat sich in jahrzehntelanger filmischer
Auseinandersetzung mit diesen Ländern und diesen Menschen das Recht auf
Teilhabe erarbeitet. Doch zugleich bleibt er mit einem Bein draußen,
bleibt Forscher und Deutscher. Was sich dadurch im Subtext der stets
intimen Unterhaltungen ergibt, was in Momenten sogar zu expliziten
Zugehörigkeitsbekundungen gerinnt, ist ein weiterhin ernsthafter und
passionierter Glaube an Europa. Und dies nicht trotz, sondern auch wegen
der Nationalismen. Das ist vielleicht keine ganz neue Einsicht, und sie
muss streitbar bleiben, aber wenn sie so organisch aus dem gelebten
Leben herausgearbeitet wird wie hier, dann hallt sie anders als die
dumpfen Parolen unserer lautstarken EU-kritischen Populisten.

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 19.02.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.