Notizen zum Kino 1: Tendenzen im Dokumentarfilm

Super Size Reality 
Die schleichende Fiktionalisierung des Dokumentarfilms
von Silvia Hallensleben  

 

Die Goldene Palme für Michael Moores Fahrenheit 9/1 in Cannes im Mai 2004 hat weltweite Aufmerksamkeit erregt – nicht nur wegen der politischen Implikationen. Die Entscheidung der Jury für einen Nicht-Spielfilm an diesem Hort der Filmkultur schien ganz explizit eine Verschiebung in der Genrelandschaft zu markieren, die schon länger in der Luft gelegen hatte. Während in der Filmtheorie die kategoriale Unterscheidung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm zunehmend angezweifelt wird, war es in der unausgesprochenen Spartenhierarchie des internationalen Festivalzirkus nur höchst selten geschehen, dass ein nicht-fiktionaler Film im Wettbewerb eines nicht auf Dokumentarfilm spezialisierten A-Festivals landete. Die Prämierung solcher Außenseiter etwa in den europäischen Festivals von Berlin, Cannes oder Venedig blieb die absolute Ausnahme. Nun ist eine Juryentscheidung eine Juryentscheidung – und als solche den Zufällen der Besetzung und der Dynamik interner Diplomatie geschuldet. Doch auch jenseits von Cannes schlug Fahrenheit 9/11 einsame Rekorde. Auch wenn sich sicherlich mit Recht darüber streiten lässt, ob es sich bei Moores mitreißender Anti-Bush-Agitation überhaupt um einen Dokumentarfilm in eigentlichen Sinne handelt. Der Filmwirtschaft sind solche genreästhetischen Finessen egal: Während die Bowling for Columbine-DVD schon in den "Special Interest"-Abteilungen der Medienkaufhäuser zwischen Aerobic-Kursen und Kaminfeuer auf Kundschaft wartet, wird Fahrenheit 9/11 in den Hitlisten der Verleiher mangels differenzierterer Kriterien als weltweit erfolgreichster Film der Dokumentarfilmgeschichte überhaupt gefeiert – und auch als erster, der mehr als 100 Millionen US-Dollar weltweit eingespielt hat.

Dieser Erfolg ist ein Extremfall, und als solcher der aktuellen politischen Erregungslage und Moores Popularität geschuldet: Ein Einzelfall ist er nicht. Denn ein Blick auf die Zahlen der letzten Jahre zeigt, dass auch sonst nichtfiktionale Formate beim Publikum vermehrt Aufmerksamkeit gefunden haben. Als Ende der 1990er-Jahre der Besucheranstieg bei dokumentarischen Filmen in der Kinostatistik erstmals auffiel, war die Entwicklung allerdings nur dem Erfolg eines einzigen Films geschuldet: Wim Wenders' Buena Vista Social Club, der es 1999 auf Platz 6 der nationalen Filmcharts der Filmförderungsanstalt (FFA) schaffte und bis 2003 in der Bundesrepublik immerhin 1.195.348 Millionen Kinobesucher erreichte. Ein Erfolg, der sich 2002 ganz ähnlich mit Nomaden der Lüfte wiederholte. 2003 sahnte dann Bowling for Columbine – als kanadisch-amerikanisch-deutsche Koproduktion – noch einmal 1.213.713 Zuschauer ab. Doch auch neben solchen Megahits ist im Hauptfeld der Top 100 die Zahl der Dokumentarfilme von 1998 (sieben) bis 2003 (14) kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2004, für das bislang noch keine nationale Statistik vorliegt, haben – und das ist ein neuer Rekord – fünf Dokumentarfilme jeweils mehr als 100.000 Zuschauer ins Kino gezogen. Und bei den internationalen Charts haben es in den letzten Jahren mit Mikrokosmos (Platz 62 im Jahr 1996), Bowling for Columbine  (Platz 38) und Sein und Haben (Platz 95, 263.650 Zuschauer) immerhin drei Dokumentarfilme unter die Top 100 geschafft.

Angestachelt durch solche ökonomischen Erfolge, wurde in den deutschen Medien in den letzten Jahren immer wieder ein sogenannter Dokumentarfilmboom ausgerufen und diskutiert. Die Titel hießen "Hunger auf Wirklichkeit" oder ähnlich und suggerierten neben der etwas überstürzten Vermengung von dokumentarischer Form und Realität auch, dass der neue Appetit aufs Dokumentarische mit einem Erfahrungsmangel zusammenhängen könnte, der viele im Medienzeitalter prägt: Während die realen ökonomischen, sozialen und ökologischen Verflechtungen des Lebens auf unserem Planeten sich immer mehr der unmittelbaren Erfahrung entziehen, so die These, nimmt das Bedürfnis nach einer ersatzweisen Vermittlung dieser Zusammenhänge im Kino zu. Während unsere komplexen Lebensrealitäten in den meisten Spielfilmen nur als verzerrtes Katastrophenszenario oder in sentimental überzuckerter Form vorkommen, wollen wir echte Menschen mit echten Problemen auf der Leinwand sehen. Und während die medialen Welterklärungen auf aktualitätsbesessene Oberflächenformate zusammenschrumpfen, wächst das Bedürfnis nach nachhaltiger Einlassung auf Hintergründe und Lebensrealitäten. Eine naheliegende Vorstellung, die auch realistische Erfolge im neuen deutschen Spielfilm wie Gegen die Wand oder Michael Schorrs halbdokumentarische Frührentnerromanze Schultze Gets the Blues gleich mit erklärt, andererseits vom Blick auf die erfolgreichsten Dokumentarfilme der letzten Jahre aber auch kräftig relativiert – und erweitert -werden muss.

Denn es sind sehr spezielle Wirklichkeitsbereiche, auf die der wesentliche Teil der Filme jenseits von Moore entfällt, die mehr als 50.000 Zuschauer ins Kino brachten. Da geht es um: alte Männer und exotische Musik (Buena Vista Social Club), die Wunder der Natur (Nomaden der Lüfte, 760.051 Zuschauer, 2002), Tiere in exotischer Landschaft (Die Geschichte vom weinenden Kamel, 299.723 Zuschauer, 2004), Ernährung (Super Size Me, 272.912 Zuschauer bis November 2004), Musikpädagogik (Rythm Is It, 221.495 Zuschauer, bis 11/04), ein großes Sportereignis (Höllentour, 200.719 bis 11/04), eine Sterbeforscherin (Elisabeth Kübler-Ross, 144.683 Zuschauer bis 11/04), die RAF (Black Box BRD, 98.452 Zuschauer, 2001), den letzten deutschen Kaiser (Majestät brauchen Sonne, 95.090 Zuschauer, 2000/2001), einen Naturkünstler (Rivers and Tides, 71.326 Zuschauer, 2002), fernöstliche Naturheilkunde (Ayurveda, 65.000 Zuschauer, 2001) und die Lebenskämpfe von Schauspielschülern (Die Spielwütigen, 53.452 Zuschauer).

So vielfältig die Themen, so auffällig die Tatsache, das mit Black Box BRD nur einer aus der Riege der erfolgreichen Filme einen Stoff der deutschen Zeitgeschichte auf die Leinwand brachte. Und auch dessen Regisseur Andres Veiel inszeniert seine Parallelmontage zweier Leben aus den entgegengesetzten Polen des politischen Spektrums ja nicht gerade mit analytischer Schärfe, sondern mit dem milden Gestus therapeutischer Versöhnlichkeit, die Wunden nicht bloßlegen, sondern heilen will. Überhaupt ist verblüffend, wie sehr die sogenannten harten Themen und Konflikte der Welt bei dieser Auswahl in sentimental aufgelöster Form erscheinen. Herzerwärmung statt Analyse, Sinnstiftung statt Sezierungskunst – wobei gar nichts gegen Sinnsuche und Warmherzigkeit gesagt sein soll, solange sie nicht versucht, häßlichere Wahrheiten zu übertünchen. Und auch Moores Polit-Stücke passen hier ins Bild, haben sie doch ihren Erfolg weniger der Erforschung widersprüchlicher Wirklichkeiten zu verdanken als der identitätsstiftenden Formierung einer ideellen Protestbewegung. Dabei spiegeln die Filme in ihrem agitatorischen Gestus die Verhältnisse, die sie geboren haben. Mit feineren Methoden wäre der herrschenden Meinungspropaganda in den USA wohl kaum in so großem Stil beizukommen gewesen. Ein Film wie Andrew Jareckis Capturing the Friedmans (2003) etwa, die ebenso kluge wie verstörende Rekonstruktion kollektiver Hysterie über einen angeblichen Fall von Kindesmißbrauch, hat zwar auf Festivals weltweit Aufmerksamkeit erregt, im Kino aber nur ein begrenztes Publikum gefunden. Bei uns ist der Film bis jetzt überhaupt nicht in den Verleih gekommen und nur auf DVD erhältlich.

Auch ein Blick auf die deutsche Verleihsituation zeigt, dass formal und inhaltlich irritierende Stücke im Kino kaum eine Chance haben. Von den 44 langen Dokumentarfilmen, die es im Jahr 2003 in den Verleih schafften, erreichten lediglich sechs mehr als 10.000 Zuschauer. Für die meisten – und oft auch die interessantesten – Dokumentarfilme sind deshalb spezialisierte Festivals immer noch der einzige Ort, wo sie wenigstens einige Male von der Leinwand strahlen können, bevor sie bestenfalls in die Flimmerkiste abwandern.

Was also meint man überhaupt, wenn wir "Dokumentarfilm" sagen, von genretheoretischen Überlegungen einmal abgesehen? Geht es um Produktionen für Kino oder Fernsehen? Soll die Veröffentlichung auf Leinwand, Video oder DVD die Maßgabe sein? Und was ist mit den vielen Filmen, die zwar mehr oder weniger erfolgreich den Festivalparcours bestreiten, den Sprung ins reguläre Kinoprogramm aber nie schaffen? Und was heißt schon reguläres Kinoprogramm? Die Programmkinolandschaft von Städten wie Berlin oder Hamburg mit ihren kleinen Spezialreihen und regionalen Mini-Starts? Oder die Multiplex-Wüste zwischen Cottbus und Ahrweiler? Manche sperrigen Produktionen (als sperrig kann dabei auch schon eine Länge gelten, die nicht in die gängigen Formatraster von Kino-Programmschienen und Sendeplätzen passt) wie etwa die neuen Filme von Chantal Akerman, Ulrike Ottinger oder Hito Steyerl finden in letzter Zeit auch vermehrt im Kunstbereich neue – für die Rezeption nicht immer vorteilhafte – Präsentationsmöglichkeiten, wenn sie nicht gleich als Installationen mitproduziert wurden. So präsentierten sich etwa – auch außerhalb des offiziellen Filmprogramms – große Teile der Kunstschau "documenta" 2003 als ein extensiver, aus einzelnen Projektionsboxen zusammengesetzter Film-Parcours.

Theoretisch ist solches Cross-Over zwischen Kunst und Kino produktiv und interessant. Praktisch aber sind die meisten nichtprofessionellen Dokumentarfilm-Interessierten, die sich das Reisen zu den Filmen nicht leisten können, auf die Spezialsendeplätze von arte, 3sat und einiger dritter Programme angewiesen, um ihrer Leidenschaft zu frönen. Dabei funktionieren die Sender ja nicht nur als Abspielorte für das Repertoire der Filmgeschichte. Hier werden auch die neuen Einzelprojekte und Formate entworfen und entwickelt, die Gegenwart und Zukunft des Genres bestimmen. Denn, so die bittere Wahrheit, die Produzenten deutscher Dokumentarfilme können aus der Kinoverwertung selbst erfolgreicher Filme nicht leben. So kann schon lange kein mit einem seriösen Budget ausgestatteter Dokumentarfilm mehr ohne Fernsehbeteiligung das Licht der Welt erblicken. Auch wenn dabei im Einzelfall durchaus großartige Filme herauskommen können, ist diese Zwangsehe nach filmischen Kriterien für beide Seiten kein Gewinn und verschleißt unnötige Kräfte im Produktionsprozess. Denn Leinwand und Bildschirm sind in ihren ästhetischen Ansprüchen an das Produkt wie in der Rezeption wesentlich unterschieden. So ist etwa Veiels im Kino so erfolgreicher Black Box BRD bei der späteren Fernsehaufführung traurig gefloppt. Und auch Thomas Riedelsheimers Touch the Sound, diesjähriger Hauptpreisträger des Leipziger Dokumentarfilmfestivals und unter anderen vom Bayerischen Fernsehen und arte koproduziert, dürfte mit seiner auf Überwältigung angelegten Bildgestaltung und den raffinierten Soundeffekten eine Fernsehausstrahlung nur mit schweren Einbußen überstehen.

Das aber ist die Ausnahme. Meist ist es – leider – umgekehrt: Die Filme werden von ihren ambitionierten Machern zwar irgendwie noch für die große Leinwand erhofft (auch, weil meist nur auf diesem Wege Filmfördergelder zu bekommen sind), müssen sich aber in Material und Ästhetik den Bedürfnissen des heimischen Sofa-Bildschirm-Settings fügen: Kleine Spannungsbögen, großflächige Bilder, unterstützende Kommentare und eine Dramaturgie, die vom Wegzappen abhalten soll. Denn auch die Redakteure der wenigen einschlägigen Dokumentar-Sendeplätze der Öffentlich-Rechtlichen geraten zunehmend unter den Druck der Quote. So werden lange Dokumentarfilme im Fernsehen zunehmend auf die nächtlichen Sendeplätze abgeschoben, während sich die auf den ersten Blick wahrgenommene Zunahme des Dokumentarischen auch im Fernsehen auf kleine Formate und Serien beschränkt, wie Fritz Wolf bei seiner großen empirischen Studie über dokumentarische Formate im Fernsehen (Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen. Düsseldorf 2003, Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen) festgestellt hat. Verschärft wird dieser interne Formatierungsdruck durch die Anpassungsmechanismen, die die Privatisierung des Medienmarktes mit der Zunahme internationaler Koproduktionen auf Ökonomie und Ästhetik des Dokumentarfilms ausübt. Dabei werden in vorauseilendem Gehorsam die Erfolgsrezepte einer vom Spielfilm infizierten, emotionalisierenden Dramaturgie zu allein selig machenden Genregesetzen verabsolutiert, die zunehmend auch in Seminaren und Filmhochschulen gelehrt werden. Die Befunde von Wolfs Fernsehstudie sind auch in ästhetischer Hinsicht auf viele Kino-Dokumentarfilme übertragbar: Personalisierung, Emotionalisierung, Dramatisierung und Fiktionalisierung sind hier die Stichworte.

Dabei haben die Protagonisten der neuen narrativen Schule neben den unübersehbaren ökonomischen Erfolgen auch die Erklärungsmuster neoliberaler Modernisierung auf ihrer Seite: Gegenwartsorientierte Professionalität gegen muffige Ewiggestrige, Pluralisten gegen Verfechter der reinen Lehre, spannende Unterhaltung gegen verkrampfte Langeweile. Gegen solche Anwürfe durchsetzen können sich nur jene wenigen Filmemacher und Filmemacherinnen, die stark oder etabliert genug sind, ihren Standpunkt in den Redaktionen durchzuboxen oder das Glück haben, mit den wenigen noch vorhandenen unabhängigen Dokumentarfilm-Redaktionen zusammenzuarbeiten. So ist auch Harun Farocki minimalistische Studie Nicht ohne Risiko – wo eine Stunde lang einigen Menschen beim Verhandeln über ein Geldleihgeschäft zugeschaut wird – wieder in der bewährten Zusammenarbeit mit Wener Dütsch beim WDR entstanden. Und auch arte und 3sat produzieren regelmäßig anspruchsvolle Dokumentarfilme. Doch auch hier wird es gerade für unbekannte Autoren und Autorinnen zunehmend schwieriger, ungewöhnliche ästhetische Entscheidungen durchzusetzen. Es ist zu befürchten, dass in Zukunft sukzessive – wie letztes Jahr durch den Ruhestand von Werner Dütsch – mit bestimmten Personen auch weitere Freiräume aus den Sendern verschwinden werden.

Selbstverständlich bleibt immer der Weg in die Eigenproduktion. Dabei scheint sich die materielle Schere zunehmend stärker zu öffnen: Während sich auf der einen Seite Filme in beschränktem Rahmen so billig realisieren lassen wie nie, verlangt der Markt immer aufwändigere Produktionen. Während auf der einen Seite Enthusiasten am Rande des Nichts für ein kleines engagiertes Publikum produzieren, wird auf der anderen mit hochgezüchtetem technischen Know-how auf internationale Masse gesetzt. Und während auf der einen Seite versucht wird, der wachsenden Omnipräsenz der Bilder mit verschärfter Skepsis zu begegnen, wird auf der anderen immer stärker auf Strategien der Überwältigung gesetzt. Schon immer bewegte sich das Kino zwischen den Polen von Hingabe und Distanz. Schon immer auch stand dabei die Frage nach dem Verhältnis von Sichtbarem, Realität und Wahrheit im Raum. Gerade beim dokumentarischen Filmemachen wurde immer schon ganz praktisch über den Status der Bilder nachgedacht. Logischerweise wächst die Bedeutung solcher erkenntnistheoretischer Fragen in einem Kontext, in dem die Präsenz von Kamerabildern massiv zunimmt. Und je mehr dieser Bilder in einem der Öffentlichkeit entzogenen, privat-kommerziellen Raum entstehen, desto größer wird auch der gesellschaftliche Bedarf an ihrer kritischen Befragung und Kontrolle.

In diesem Sinn wurde der Dokumentarfilm in den letzten Jahren immer stärker auch Gegenöffentlichkeit zum Status Quo des Medialen, wie die vielen kleinen globalisierungskritischen Videofestivals zeigen, die weltweit aus dem Boden geschossen sind. Neben Gegenöffentlichkeit im journalistischen Sinn von Moore oder Outfoxed hat dabei auch die Problematisierung des Status der Bilder einen neuen prominenten Stellenwert erhalten. Zumindest unterschwellig schwingt die Frage nach dem Verhältnis von Abbild und Abgebildetem im zeitgenössischen Dokumentarfilm, der sein Medium ernst mit, wohl immer mit. Die Ernsthaftigkeit und Ergebnisoffenheit der Erforschung des Spannungsfeldes von Bildern und Wirklichkeiten lässt sich als Kriterium dafür verwenden, wie weit Filme auch kritischer Besichtigung standhalten. So rückte in mindestens drei der interessantesten Filme der Duisburger Filmwoche 2004 die Fragwürdigkeit des Bildermachens ins Zentrum: Hito Steyerl untersuchte in November, wie das Bild einer im kurdischen Freiheitskampf ermordeten Freundin als öffentliche Ikone durch unterschiedlichste Welten zirkuliert. Gerhard Friedls vom WDR koproduzierter Film Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? beschäftigt sich in einer absichtlich bilder-ohnmächtigen Chronique Scandaleuse deutscher Wirtschaftsverbrechen mit der Unmöglichkeit, vom Kapitalismus als Geschichte zu erzählen. Und der Kurzfilm Wilhelm der Schäfer der Berliner Filmstudentin Josie Rücker macht das Verschwinden gleich doppelt zum Thema ihres Films, der von einen aussterbenden Beruf aus menschenleeren Bildern und Erinnerungen an den vor Filmbeginn verstorbenen Protagonisten erzählt.

Auch hier ist eine Schere: Während auf der einen Seite in höchster Intensität über die Schwierigkeiten des Bildermachens nachgedacht wird, bebildert man auf der anderen mit unverdrossener Beharrlichkeit vor sich hin. Eine absurde Gleichzeitigkeit. So ist in vielen zeithistorischen Dokumentationen ja immer noch die berüchtigte Kombination aus Kopfsalat mit künstlich bewegtem, illustrativem Archivmaterial und Musiksoße Standard, in der das Zeitzeugeninterview – ursprünglich einmal zur Wahrheitsfindung auf widersprüchlichem Terrain genutzt – zum beliebig verfügbaren Garant von Authentizität degeneriert. Allerdings sterben die Zeitzeugen zu bestimmten Themen langsam aus, andererseits werden auch ihre naturgemäß wortreichen Berichte wohl zu trocken und bilderarm für ein Publikum, das mit unmittelbarer Erlebnisqualität und emotionaler Identifikation gefesselt werden soll. So ist – nach der Saurier-Animation und der szenischen Re-Inszenierung – der nächste Entwicklungsschritt im internationalen Dokumentarfilmgeschäft konsequenterweise die künstliche Nachproduktion dokumentarischer Szenen, wie sie etwa Discovery Channel derzeit entwickelt und propagiert. Statt Re-Inszenierung durch Schauspieler werden hier historische Charaktere mittels Großrechner reanimiert und das Ergebnis dann künstlich dem patinierten Original angealtert.

Auf dem letzten Filmfestival in Leipzig war mit The Secret Plot to Kill Hitler solch eine Produktion zu sehen, die historischen Akteuren wie Hitler, Churchill und Stalin endlich posthum die psychologische Ausstaffierung angedeihen lässt, die uns von Hollywood-Helden vertraut ist. Eine vorerst bizarre Geisterbeschwörung, die jedoch schnell beängstigende Ausmaße annehmen kann und historische Erkenntnis in ihr Gegenteil verzerrt: Die Fiktionalisierung des Dokumentarischen als Teil der Unterhaltungsindustrie. So realisiert sich ironischerweise an unerwartetem Ort, was viele seit langem behaupten: Dass der Unterschied zwischen Dokumentarischem und Fiktiven selbst eine Fiktion sei. Nur wird das Problem hier in umgekehrte Richtung aufgelöst: Nicht die Konstruiertheit des scheinbar Echten und Wahren wird zum Thema. Sondern der Wirklichkeitsstatus von Ereignissen hängt daran, ob sie sich als emotional glaubwürdige Geschichte erzählen lassen. Wenn eine solche Sichtweise um sich greifen würde, wäre der Verlust an möglicher Wirklichkeit wohl nicht nur für Dokumentaristen verheerend, sondern für alle, die sich auch in Zukunft einen eigenwilligen Blick auf die Welt leisten wollen.

Silvia Hallensleben
© VdFk 2005

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